NOTIERT IN LONDON

Parmogeddon oder das Ende der Freiheit

Der Krieg gegen die Fettleibigkeit hat bizarre Züge angenommen. Nun haben die Slim-Fit-Warriors das Parmo ins Visier genommen, eine lokale Spezialität der Teesside, einer von der Schwerindustrie erst geprägten und dann verlassenen Region im...

Parmogeddon oder das Ende der Freiheit

Der Krieg gegen die Fettleibigkeit hat bizarre Züge angenommen. Nun haben die Slim-Fit-Warriors das Parmo ins Visier genommen, eine lokale Spezialität der Teesside, einer von der Schwerindustrie erst geprägten und dann verlassenen Region im Nordosten Englands. Anthony O’Shaughnessy brachte es als Kandidat der Fernseh-Kochshow Masterchef einem landesweiten Publikum nahe, trotzdem dürften nur die wenigsten Briten schon einmal davon gehört haben.Der Snack bringt es in XXL auf mehr als 2 000 Kalorien und liefert damit die richtige Grundlage für einen ausgedehnten Besuch im Pub. Frittierte Schokoriegel, die jeder gut sortierte Chippie im Angebot hat, können da nicht mithalten. Das Parmo besteht aus einem herausgebackenen Hähnchenschnitzel, das erst mit dickflüssiger Bechamelsoße übergossen und dann mit Käse überbacken wird. Parmesan kommt dabei allerdings nicht zum Einsatz. Es gibt zahlreiche Variationen wie den Parmo-Burger, den Parmo-Kebab oder das Tandoori-Parmo. Statt Hähnchen werden auch Schweine- oder Kalbsschnitzel auf diese Weise frisiert. Nicos Harris, einem ehemaligen US-Soldaten, der im Zweiten Weltkrieg in Frankreich verwundet und in einem britischen Krankenhaus wieder aufgepäppelt wurde, wird die Erfindung des Kultgerichts zugeschrieben. 1958 soll er es in seinem Restaurant The American Grill in Middlesbrough erstmals auf die Karte gesetzt haben. “Man müsste ein Olympia-Sportler sein, um das ohne Folgen essen zu können”, sagte Tam Fry (!), Chairman des National Obesity Forum. Er macht das mutierte Schnitzel für die große Zahl von Fettleibigen im Nordosten verantwortlich.Ben Houchen, der Bürgermeister von Middlesborough, bemühte sich um eine geschützte Ursprungsbezeichnung für Parmos, was bei der freiwilligen Volksgesundheitspolizei großen Unmut hervorrief. Die Fit-without-fun-Taliban würden einem im wahrsten Sinne des Wortes den Mund verbieten. Dabei ist der tägliche Pappeimer Frittiertes eine der letzten individuellen Freiheiten, die es noch gibt. Houchen schätzt besonders die Parmos von Blue Bell in Eaglescliffe oder Manjaros in Middlesbrough.Public Health England (PHE) fällt im Kampf gegen die zunehmende Fettleibigkeit von Kindern und Jugendlichen nichts Besseres ein, als Restaurants dazu zu zwingen, kleinere Portionen anzubieten. Pies sollen nur noch bis zu 695 Kalorien haben, Pizzas maximal 928. Selbst die Margherita von Pizza Express ist nahrhafter. Die krummen Werte erwecken den Anschein, irgendwie wissenschaftlich fundiert zu sein. Tatsächlich wird vielen Ursachen der vermeintlichen Wohlstandskrankheit Adipositas nicht weiter nachgegangen. “Die einfache Wahrheit ist, dass wir im Schnitt zu viel essen”, konstatiert die PHE-Oberernährungswissenschaftlerin Alison Tedstone.So einfach ist die Wahrheit aber nicht. Eltern, die zu den unmöglichsten Tageszeiten zum Mindestlohn arbeiten, um die Miete zu bezahlen, können ihre Kinder mit Hilfe von Takeaways zu einem attraktiven Preis sattbekommen. Es ist eben ein Trugschluss, dass ein großes Fast-Food-Angebot zu mehr Fettleibigkeit führt. Am Anfang steht die Armut, die den Betrieb zahlreicher Schnellrestaurants in bestimmten Stadtteilen erst attraktiv macht. Hinzu kommen kulturelle Faktoren. Deutschland hatte seine Fresswelle in den Nachkriegsjahren. Viele Zuwanderer haben in Großbritannien erstmals nahezu unbegrenzten Zugang zu hochwertigem und reichhaltigem Essen. Natürlich greifen sie herzhaft zu.In einer Welt, die so tut, als wäre das Wischen am Smartphone eine nur schwer zu erlangende, für das Leben in der digitalen Welt von morgen aber dringend benötigte Kompetenz, spricht man nicht über die viele Zeit, die Kinder statt in Bewegung still am Bildschirm verbringen. Londons Bürgermeister Sadiq Khan bewirbt lieber einen frühmorgendlichen Dauerlauf für Grundschüler. Das bringt schöne Fernsehbilder, denn der britische Olympiasieger Mo Farah ist das Aushängeschild der Kampagne. Mehr Bewegung schadet nicht, aber viele Londoner Schulen befinden sich an stark befahrenen Straßen. Vor Schulbeginn ist die Rush Hour in vollem Gange. Und so stirbt nicht nur die Freiheit Schritt für Schritt. Auch das Lungengewebe der nächsten Generation wird geschädigt.