IM BLICKFELD

Siemens am Scheideweg

Von Michael Flämig, München Börsen-Zeitung, 24.10.2017 Ist es genial? Oder doch Harakiri? Die Meinungen über die Siemens-Strategie, Firmenteile in börsennotierte Gesellschaften auszugliedern und das Konglomerat in seiner bisherigen Form zu...

Siemens am Scheideweg

Von Michael Flämig, MünchenIst es genial? Oder doch Harakiri? Die Meinungen über die Siemens-Strategie, Firmenteile in börsennotierte Gesellschaften auszugliedern und das Konglomerat in seiner bisherigen Form zu beerdigen, gehen weit auseinander. Die Debatte wird engagiert geführt – bisher eher im Verborgenen, aber keineswegs nur in der Kantine der Siemens-Zentrale. Beispielsweise haben Analysten selten so hartnäckig Fragen zur Strategie gestellt wie jüngst in der Telefonkonferenz anlässlich des Alstom-Deals.Die Diskussion krankt aber daran, dass die Öffentlichkeit nicht weiß, welche Fassung der Konzern sich geben will. Vorstandschef Joe Kaeser wird die neue Strategie – Arbeitstitel “Vision 2020+” – als Nachfolge der weitgehend erfüllten Vision 2020 wohl im nächsten Frühjahr vorstellen. Was ist zu erwarten, und welche Argumente liegen auf dem Tisch?Klar ist: Bisher macht Siemens keine Worte, sondern lässt nur Taten sprechen. Die Produktion von Windturbinen gehört nun zum deutsch-spanischen Konzern Siemens Gamesa, die Bahntechnik soll in das deutsch-französische Unternehmen Siemens Alstom wandern und die Medizintechnik unter dem Namen Healthineers an die Börse. Diese Faits accomplis entziehen gut ein Drittel des Umsatzes und 40 % des operativen Gewinns der direkten Siemens-Kontrolle (siehe Grafik). Allerdings behalten die Münchner die Mehrheiten an den börsennotierten Gesellschaften. Bekannt ist außerdem: Kaeser lehnt eine Finanzholding ab. “Das erzeugt keinen Wert in der Zukunft”, erklärte er jüngst Analysten. Doch die bisherige Konglomeratstruktur findet seine Zustimmung ebenfalls nicht. “Ich werde nicht derjenige sein”, sagte er in einem Video-Interview der Zeitschrift “Fortune”, “der die letzten Lichter ausmacht in einem der letzten Konglomerate.” Flotte statt Tanker …Siemens hat in dieser Sichtweise das Synergieversprechen zwischen industriellem Kern und den Satelliten-Divisionen wie der Medizintechnik nie erfüllt. Behäbigkeit, Selbstgefälligkeit und damit inhärent die Mittelmäßigkeit waren demzufolge das Resultat des Glaubens, alles sei synergetisch mit allem verbunden. Kaeser rügte daher vor einigen Wochen in einem konzernintern geführten Video-Interview, der Tanker Siemens könne sich bei gleichmäßiger Geschwindigkeit nur in eine Richtung bewegen: Er sei schwerfällig und langsam zu manövrieren. Stattdessen hat Kaeser sich die Aufgabe gestellt, ein überlebensfähiges, modernes Konglomerat zu bauen. Es solle eine Flotte von Schiffen entstehen, die als Team zusammenarbeiteten, predigte er wiederholt.Dieser Forderung liegt die Analyse zugrunde, dass die Digitalisierung die Industrie und ihre Automatisierung so schnell wandelt, dass Mittelmaß keine Option mehr ist. Nur die Exzellenten bleiben, der Rest verschwindet: “The winner takes it all.”Das moderne Konglomerat muss damit, dies lässt sich aus den öffentlichen Stellungnahmen Kaesers herausfiltern, drei Kriterien genügen. Erstens: Die Konzerngesellschaften sollen so flexibel und fokussiert aufgestellt werden, dass sie trotz forcierter Globalisierung mit den meist spezialisierten Wettbewerbern mithalten können. Zweitens: Die Marke Siemens soll als Klammer dienen und durch ihre Bekanntheit den Absatz ankurbeln. Drittens: Die Konzernführung soll auf die Besonderheiten der Geschäfte ausgerichtet werden. Siemens könne sich “keine allmächtige Corporate Governance leisten, die versucht, eine einheitliche, für alle geltende Führung aufzubauen”, so das Credo von Kaeser. Den operativen Einheiten soll Unterstützung künftig von der Zentrale nicht mehr einfach zugeteilt werden. Sie sollen vielmehr nur jene Hilfe abrufen, die sie für ihr Geschäft benötigen. Anlagenbau hat eben andere Bedürfnisse als das Projekt- oder Lösungsgeschäft. Wer Produkte an den Mann bringt, der muss anders geführt werden als der Softwareverkäufer.Diese Sichtweise ist keineswegs Konsens. Synergien gibt es auch jenseits des industriellen Kerns, lautet die Gegenposition. Gerade die Digitalisierung verbindet demnach die Divisionen mit gleichartigen Anwendungen. Unbeweglich ist Siemens aus diesem Blickwinkel keineswegs. Ein Niedergang wie im Kraftwerksgeschäft ist nicht auf mangelnde Flexibilität, sondern auf Fehler von Vorständen zurückzuführen. … oder Wrack?Das Management schwächt in dieser Sichtweise den Markennamen permanent; etwa durch dessen Verwendung auf Hausgeräten, obwohl der Konzern längst nicht mehr Eigentümer dieser Sparten ist. Ein weiterer Kritikpunkt: Mit den Börsennotierungen verliert Siemens teils hochmargige Assets. Welche Mittelzuflüsse sollen die Ausfälle ersetzen? Der Einfluss auf die börsennotierten Einheiten sei demnach außerdem nur noch gering, das darausfolgende Risiko enorm, so die Skeptiker.Die Schlussfolgerung: Die Strategie will nur die Bilanztechnik verbessern und damit einen höheren Börsenkurs erreichen. Wo bleibt die Verantwortung in einer sozialen Marktwirtschaft? Der Preis ist dieser Position zufolge darüber hinaus, dass die Medizintechnik weggekauft wird und Siemens in einer Dekade nicht mehr existiert. Damit löse sich ein industrieller Champion auf, der Standort Deutschland verlöre.