Siemens-Umbau lässt Investoren kalt
Der Siemens-Komplettumbau wird von Analysten gelobt, doch es kommt wenig Zählbares dabei heraus. Der Aktienkurs notiert niedriger als zum Zeitpunkt der Verkündung der “Vision 2020+”. Auch steigende Bewertungen der Töchter für Medizintechnik und Windkraftanlagen wirken sich nicht positiv auf die Mutter aus.Von Michael Flämig, MünchenSiemens ist ein Unternehmen, das sich – wie Vorstandschef Joe Kaeser im Mai betonte – fundamental verändert. Tatsächlich durchläuft der Konzern eine historische Transformation. Was sich jedoch nicht verändert, ist die skeptische Bewertung der Münchner durch den Kapitalmarkt. Der Aktienkurs dümpelt vor sich hin.Dies widerspricht den Prognosen vieler Akteure und Anleger. Mit einer Lösung für die Gasturbinen-Sparte wäre der Weg frei für eine deutliche Höherbewertung der Aktie, sagte etwa Union-Investment-Fondsmanager Christoph Niesel auf der Hauptversammlung im Januar: “Wenn Siemens nur aus der digitalen Fabrik bestünde, wäre der Aktienkurs vermutlich doppelt so hoch.”Im darauffolgenden Mai kündigte der Konzern zwar die Börsennotierung des Kraftwerk-Geschäfts und den Rückzug auf einen Minderheitsanteil an. Die Erwartung von Niesel erfüllte sich trotzdem nicht. Der Aktienkurs schloss den Xetra-Handel am Dienstag mit 101,44 Euro und notiert damit auf ähnlichem Niveau wie zum Zeitpunkt der Rede von Niesel. Eine Verdoppelung gibt es also nicht einmal im Ansatz.Niesel ist nicht der Einzige, der seine Projektionen nicht realisiert sieht. Das durchschnittliche Kursziel von 21 Analysten, die Bloomberg erfasst hat, liegt mit 124,86 Euro ebenfalls weit über der aktuellen Bewertung. Dabei geben keinesfalls die Exoten den Ton an. Andreas Willi (J.P. Morgan) und Ben Uglow (Morgan Stanley) rangieren mit 125 Euro und 124 Euro ebenfalls auf diesem Level. Das Lob für den Konzernumbau mittels der “Vision 2020+”, die vor fast einem Jahr erstmals verkündet und im Mai konkretisiert wurde, spiegelt sich in den Kurszielen wider. Rally der Töchter verpufft Doch nicht nur die “Vision 2020+” schlägt in der Realität nicht positiv auf den Kurs durch. Auch die Börsennotierungen der Medizintechnik und das Windkraftanlagengeschäfts scheinen zu verpuffen. Seit der Erstnotierung von Siemens Healthineers im März 2018 ist der Kurs des Ablegers im Vergleich zum Ausgabepreis um 29 % auf 36,11 Euro gestiegen und jener von Siemens Gamesa legte im gleichen Zeitraum um 20 % auf 15,55 Euro zu. Obwohl Siemens an beiden Unternehmen die Mehrheit hält (85 % und 59 %), profitierte der Konzern nicht von diesem Kursanstieg. Stattdessen schrumpfte seine Bewertung um 4 %. Rein rechnerisch also müsste der Wert des übrigen Siemens-Geschäfts in den Augen der Investoren gesunken sein.Wie wenig die “Vision 2020+” vom Kapitalmarkt honoriert wird, zeigt ein Vergleich mit anderen börsennotierten Werten. Seit der Verkündung der Vision am 1. August 2018 hinkt Siemens den Unternehmen in Deutschland, Europa und den USA hinterher. Der Kurs sank um 15 %, während der Dax nur um 2 % nachgab, der Euro Stoxx 50 stagnierte und der S&P 500 um 6 % zulegte.Der Vergleich wird Siemens nicht ganz gerecht, weil der Infrastrukturanbieter stark von der aktuellen Konjunkturabschwächung getroffen wurde, während viele Konsumgüterhersteller florieren. Doch auch in der selbstgewählten Gruppe jener fünf Unternehmen, die als Konkurrenten im “industriellen Kern” rund um die Fabrik- und Gebäudedigitalisierung gelten und deren Kursentwicklung für die aktienbasierte Vergütung des Vorstands relevant ist, macht Siemens keine gute Figur (siehe Grafik, Angaben bis Dienstagnachmittag). Nur die Kurse von ABB (-17 %) und General Electric (-20 %) sanken etwas stärker als von Siemens. Dagegen behauptete sich Eaton mit einem Abschlag von 3 %. Schmerzhaft: Schneider Electric als schärfster Konkurrent zieht mit einem Kursplus von 13 % davon, ebenso wie Mitsubishi mit einem Anstieg von 10 %.Noch schlechter steht Siemens da, wenn alle aktuellen Geschäftsfelder einbezogen werden. Sieben der zehn relevanten Wettbewerber übertrumpfen Siemens seit August 2018. Nur Bombardier, General Electric und ABB schneiden schlechter ab. Alstom meldet einen nur leichten Kursrückgang, alle anderen Wettbewerber sind sogar wertvoller als vor rund einem Jahr: Dassault Systèmes, Emerson, Johnson Controls, Mitsubishi, Rockwell und Schneider Electric.Die Folge dieser Schere aus Sicht der Analysten: Siemens hat Aufholpotenzial. Schneider Electric werde mit dem 16-Fachen des bereinigten erwarteten Gewinns 2019 bewertet, hat William Mackie von Kepler Cheuvreux errechnet. Das Siemens-Kerngeschäft samt Kraftwerksaktivitäten und zu verkaufende Unternehmen erreiche aktuell nur das Zehnfache. Sein Kollege Andre Kukhnin von Credit Suisse kommt auf nicht ganz so ausgeprägte, aber ähnliche Relationen, indem er auch Rockwell, Hexagon und Eaton berücksichtigt. Auf 20 % (Commerzbank) bis 35 % (Kepler Cheuvreux) wird der Abschlag taxiert. Die Schätzungen für den Konglomeratsabschlag betragen 10 % bis 15 %. Eine Frage des TimingsWas bremst dann den Siemens-Kurs? Es gibt keine überzeugende und zugleich einfache Antwort. Vielmehr wirkt eine Vielzahl von Faktoren. Der Zeitpunkt zum Wiedereinstieg ist aus Sicht vieler Investoren zu früh, weil die Kraftwerkssparte erst spät notiert sein wird und sie die geopolitischen Risiken nicht so lange tragen wollen. Die Umsetzung gilt im Markt als komplex und damit unter Umständen als kostspielig. Dem Versprechen der Kostensenkung wird teils nicht ganz geglaubt, teils wird wegen der Konjunktureintrübung ein größeres Programm befürwortet.Mancherorts ist die Klage zu vernehmen, Siemens bleibe ein Konglomerat; es müsse der nächste Schritt mit der Trennung von der Bahntechnik folgen. Mit derlei Finanzmathematik allerdings beißen Investoren bei Kaeser auf Granit. Transaktionen könnten nur ein Mittel sein, um den übergeordneten Zweck erhöhter Konkurrenzfähigkeit zu erreichen, predigte er emotional bei der Präsentation der Halbjahreszahlen. Wer ein Problem mit diesen Prioritäten habe, der könne seine Aktien ja verkaufen: “Dies ist kein Gefängnis.”