Totgeglaubte leben länger

Von Michael Flämig, München Börsen-Zeitung, 5.2.2020 Wiedergänger gehören eigentlich in das Reich der Mythen. Im Siemens-Konzern allerdings geht seit einigen Tagen genau so ein Gespenst um. Sonderkosten aus Projektrisiken tauchen unversehens wieder...

Totgeglaubte leben länger

Von Michael Flämig, MünchenWiedergänger gehören eigentlich in das Reich der Mythen. Im Siemens-Konzern allerdings geht seit einigen Tagen genau so ein Gespenst um. Sonderkosten aus Projektrisiken tauchen unversehens wieder auf. Siemens Gamesa hat jene Multi-Millionen-Belastungen, die Siemens-Finanzvorstand Ralf Thomas auf Konzernebene eliminiert hatte, zum Leben erweckt. Seitdem stellen sich die Anleger die bange Frage, welche Projektrisiken der deutsch-spanische Windkraftanlagenhersteller denn außerdem nicht im Griff hat.Markus Tacke und David Mesonero, die Siemens Gamesa als Vorstandsvorsitzender und Finanzvorstand führen, versuchten am Dienstag, Analysten und erstmals auch Journalisten in Quartalstelefonkonferenzen bei Vorlage des kompletten Zahlenwerks diese Befürchtung zu nehmen. Die Fakten lagen seit der vergangenen Woche auf dem Tisch, weil der Konzern eine Gewinnwarnung veröffentlichen musste: Verzögerungen beim Bau von fünf Windparks hauptsächlich in Norwegen kosten 150 Mill. Euro.Dies ist eine Menge Geld für ein Unternehmen, dessen Nettogewinn in den zwei vergangenen Geschäftsjahren jeweils unter dieser Summe lag. Gemessen an einer anderen Vergleichsgröße wirkt der Betrag ebenfalls erschreckend: Der achtmal so große Siemens-Konzern, der in den Jahren 2007 bis 2014 im Schnitt 700 Mill. Euro jährlich für falsch kalkulierte Projekte aufwenden musste, hat zuletzt in manchen Jahren netto keine Sonderkosten verbucht.Für Tacke ist die Sache besonders bitter, weil die Nordeuropa-Parks kein neues Thema sind. Wie er auf Nachfrage in der Telefonkonferenz einräumte, waren es genau jene Projekte, die auch im vergangenen Geschäftsjahr zu außergewöhnlichen Kosten führten. Während damals von Logistikschwierigkeiten bei der Anlieferung von Windkraftanlagen etwa durch nicht ausreichend dimensionierte Straßenbrücken die Rede war, sorgte nun ein früher Wintereinbruch für die Belastungen.Das Problem: Im vergangenen Juli hatte das Management erklärt, in den nächsten Quartalen keine weiteren Sonderkosten zu erwarten. Dies erwies sich als Irrtum. “Es war eine korrekte Feststellung zum damaligen Zeitpunkt”, sagte Tacke nun. Dies mag richtig sein, schließlich kommt ein Wintereinbruch naturgemäß kurzfristig. Ob es Investoren beruhigt, wird sich weisen.Wichtig aus Sicht des Vorstandsvorsitzenden: Die Mehrzahl der Projekte werde ohne Probleme umgesetzt, auch in aufwendigen Fällen wie der Installation von 24 Onshore-Parks in Spanien. Zugleich erklärte Tacke: “Wir müssen unser Risikomanagement stärken, um sehr sicher zu sein, dass wir eine gute Kontrolle über unsere Projekte in der gesamten Welt haben.” Ob und welche personellen Konsequenzen der Konzern zieht, wollte er nicht offenlegen.Sorgenvoll betrachten Investoren aber auch, dass das Onshore-Geschäft selbst ohne Sonderbelastungen die Profitabilität drückt – wenngleich das Unternehmen diese Zahlen nicht offenlegt. Einen sehr signifikanten Verlust in dem Segment auch ohne Sonderkosten habe das erste Quartal gebracht, schätzt beispielsweise Deutsche-Bank-Analyst Vivek Midha. Die Marge dürfte deutlich schlechter sein als vor zwölf Monaten. Dies sei ein Grund zur Sorge, weil der Turnaround des Geschäfts ein wichtiger Teil der langfristigen Investment-Überlegung sei.Mesonero hielt sich in der Telefonkonferenz zwar bedeckt, den Onshore-Verlust nannte er nicht. Die Marge des Konzerns sei aber im ersten Quartal auch durch geringere Offshore-Erlöse und den entfallenen Umsatz in Norwegen beeinflusst worden, betonte er. Jene Onshore-Projekte, die der Windkraft-Konzern aktuell in sein Auftragsbuch nehme, hätten bessere Margen. Das Ende des Tunnels sei mit diesem Quartal erreicht.Projektrisiken und Profitabilität: Beide Themen werden mehr Aufmerksamkeit erhalten, wenn Gamesa vom neu zu formenden Unternehmen Siemens Energy enger geführt wird. Ob Siemens dafür den 8,1-Prozent-Anteil von Iberdrola übernehmen wird? “Kein Kommentar”, lautete noch am Mittag die Antwort von Tacke – wohlwissend, dass der Deal abends verkündet werden würde (siehe Seite 1). Die Auflösung des Gesellschaftsvertrags mit Iberdrola und eine engere Zusammenarbeit von Siemens mit Gamesa soll bis zu 100 Mill. Euro jährlich bringen. Der Nettobarwert betrage 900 Mill. Euro, erklärte Siemens. Außerdem würden alle Rechtsstreitigkeiten zwischen Iberdrola und Siemens beigelegt.——Siemens muss wieder mit Projektrisiken kämpfen. Der Grund: Gamesa hat falsch kalkuliert.——