Wirtschaft hadert noch immer mit Atomausstieg
„Eher Glücksspiel als seriöse Planung“
Deutsche Wirtschaft hadert nach wie vor mit Atomausstieg und befürchtet noch höhere Strompreise
Das endgültige Abschalten der drei letzten verbliebenen deutschen Atommeiler stößt in der Wirtschaft weiterhin auf Unverständnis. Die Industrie sieht die Versorgungssicherheit kritisch. In einigen Verbänden sorgt man sich zudem um die weitere Entwicklung der ohnehin bereits hohen Strompreise.
ahe Berlin
Das endgültige Abschalten der drei letzten deutschen Atomkraftwerke ruft bei Unternehmen weiterhin Kritik hervor. Insbesondere die energieintensive Industrie äußerte am Freitag noch einmal Sorgen über die künftige Versorgungssicherheit. Der Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) verwies darauf, dass jetzt nicht nur eine Erzeugungsleistung von 4,3 Gigawatt (GW) vom Netz genommen werde, sondern eine weitere Verknappung des Stromangebotes drohe, wenn die im letzten Herbst reaktivierten Kohlekraftwerke wieder aus dem Markt ausscheiden müssten.
„Ob die Ausbauziele für erneuerbare Erzeugung und Stromnetze bis dahin erreicht werden, ist höchst fraglich und gleicht eher einem Glücksspiel als seriöser Planung“, kritisierte der VIK-Hauptgeschäftsführer Christian Seyfert. Sich nur auf Stromimporte aus dem europäischen Ausland zu verlassen, sei „hochriskant“.
Seyfert verwies zugleich darauf, dass die Stromkosten in Deutschland immer noch deutlich über denen des Auslands lägen. „Jede weitere regelbare Kraftwerksleistung, die vom Netz genommen wird, treibt die Preise und schwächt den Standort Deutschland“, warnte er. Laut Destatis waren die Strompreise für die deutsche Industrie 2022 im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine noch einmal um 19% gestiegen. Für gewerbliche Stromkunden ergab sich von Januar 2022 bis Januar 2023 sogar ein Kostenanstieg um 38%. Die Strompreise an den Börsen erreichten im August und September letzten Jahres neue Höchststände, sinken seither aber wieder.
Zubau zu langsam
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) verwies am Freitag – einen Tag vor dem endgültigen Abschalten der drei Meiler Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 – darauf, dass die Börsenstrompreise immer noch mehr als dreimal so hoch seien wie im Durchschnitt des vergangenen Jahrzehnts. „Die Bundesregierung sollte die staatlichen Strompreisbestandteile schnell senken, etwa durch die Reduzierung der Stromsteuer auf das europäische Minimum und eine staatliche Kofinanzierung der Netzentgelte“, forderte daher BDI-Hauptgeschäftsführerin Tanja Gönner, für die auch der Zubau neuer Erzeugungskapazitäten nach wie vor zu langsam verläuft. Die Bundesregierung müsse dafür sorgen, dass wieder mehr Kapazitäten auf dem Strommarkt zur Verfügung gestellt werden – durch die weitere Beschleunigung des Zubaus erneuerbarer Energien und durch wasserstofffähige Gaskraftwerke.
Von einem „Fehler historischen Ausmaßes“ und einer der „absurdesten Entscheidungen unserer Wirtschaftsgeschichte“ sprach Reinhold von Eben-Worlée, Präsident des Verbandes der Familienunternehmer, mit Blick auf den Atomausstieg. Bei den europäischen Wettbewerbern fließe weiterhin günstiger, selbst erzeugter Atomstrom durch die Leitungen.
Eine am Freitag veröffentlichte Studie des Analyseinstituts Enervis im Auftrag von Greenpeace und Green Planet Energy kam hingegen zu dem Ergebnis, dass der um dreieinhalb Monate verlängerte Betrieb der drei letzten deutschen Atommeiler für die Versorgungssicherheit Deutschlands im zurückliegenden Winter nicht notwendig gewesen sei. Die drei Kraftwerke hätten von November bis April rund 12,2 Terawattstunden Strom erzeugt, was etwa 30% weniger war als in den Vergleichszeiträumen der letzten fünf Jahre, hieß es. „Die ohnehin gedrosselte Stromerzeugung der Reaktoren hätte zu jeder Zeit durch verfügbare Gaskraftwerke ersetzt werden können.“ Auch der dämpfende Effekt auf die Strompreise sei gering gewesen. Angesichts des geringen Nutzens seien Forderungen nach Laufzeitverlängerungen unseriös, so Greenpeace.