Thomas Fischer

Cum-ex: Wo ist das Problem?

Auf der Hand liegt: Eine ‚Erstattung‘, von was auch immer, ist der Rückfluss einer zuvor hingeflossenen Leistung. Wenn eine Geldsumme einmal gezahlt, aber zweimal erstattet wird, kann etwas nicht stimmen.

Cum-ex: Wo ist das Problem?

Angeblich sind die Phänomene der sogenannten Cum-ex-Geschäfte geklärt. Viele behaupten, sie seien schon immer klar gewesen. Dieses Narrativ wurde zuletzt am 7. Juni in einem von der ARD ausgestrahlten Film verbreitet, in dem eine Staatsanwältin aus Köln eine „internationale Finanzmafia jagt“, auf dass „Gerechtigkeit“ einkehre. Nachdem die Zuschauer aus der Mischung von Spielszenen, Merksätzen der Staatsanwältin aus Köln und Lobeshymnen ihres Justizministers sowie zweier Volkswirte der Linken und der Grünen erfahren haben, dass eine weltweite Verschwörung vor 25 Jahren in voller Kenntnis der Strafbar­keit ein schwerkriminelles System des „Steuerraubs“ installiert habe, dürfen sie später im Film dabei sein, wenn die Staatsanwältin sich „sehr erleichtert“ darüber zeigt, dass das Landgericht Bonn im Jahr 2020 die Frage „War das Cum-ex-Modell tatsächlich illegal?“ bejaht habe. So etwas nennt man: Rückschau­fehler.

Das Lagebild erinnert an einen Comic: Danach gibt es seit mindestens 25 Jahren eine geheime Organisation mit tausenden Mitgliedern. Ihre Krakenarme reichen vom „elften Stockwerk“ der Banken über „teure Anwaltskanzleien“ bis zur großen Politik. Die Mitglieder haben eine Geheimorganisation gebildet, um den Bürgern Steuergeld zu „rauben“. Man hat dabei das kriminologische Wunder vollbracht, viele Jahre lang das kriminelle Sonderwissen komplett geheim zu halten: Innerhalb der Bande wussten alle alles, außerhalb der Bande niemand etwas. So etwas kennt man aus James-Bond-Filmen oder Narrativen der Scientology-„Kirche“.

Auf der Hand liegt: Eine „Erstattung“, von was auch immer, ist der Rückfluss einer zuvor hingeflossenen Leistung. Wenn eine Geldsumme einmal gezahlt, aber zweimal erstattet wird, kann etwas nicht stimmen. Bezogen auf „Cum-ex“: Niemand darf sich eine Steuer zweimal er­statten lassen, die er nur einmal be­zahlt hat.

Ganz so einfach wie die Hinterziehung von Einkommen- und Umsatzsteuer, die von vielen Millionen braver Bürger als eine Art Freiheitskampf verstanden wird, ist die Steuerhinterziehung mittels Cum-ex-Geschäften aber nicht. Es gibt da niemand, der „sich“ zweimal Steuer erstatten lässt, und die Behauptung, die Tat bestehe darin, Aktien so oft hin und her zu verkaufen, bis die Finanzämter die Übersicht verlieren, ist zwar dem Hütchenspieler vertraut, aber trotzdem nicht wahr.

Ein Problem ist: Die „Mafia“ muss in der Logik der „Jäger“ immer schon vorausgesetzt werden, um die Taten identifizieren zu können, deren Begehung ihre Existenz angeblich erst beweist. Es geht bei den „Anklagen am Fließband“, die der Justizminister angekündigt hat, daher stets ums „System“. Verfolgt werden nicht Individuen, sondern „Cum-ex“ oder die „organisierte Kriminalität“, so dass ein persönlicher Tatvorsatz gar nicht mehr in Frage steht: Wer ins Visier der „jagenden“ Staatsanwaltschaft gerät, kann nur noch „Kronzeuge“ oder verstockter Verbrecher sein. Unschuldige kommen nicht mehr vor.

Steuermotivierte Finanz- und insbesondere Aktiengeschäfte sind nicht verboten, ebenso wie jede andere Steueroptimierung. Auch das sogenannte Dividendenstripping, ein 1999 vom Bundesfinanzhof (BFH) eingeführter Begriff, war jahrzehntelang üblich. Man kann es unmoralisch oder fiskalisch unerfreulich finden, aber die Grenze der Steueroptimierung ist nicht die Moral, sondern der „Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten“ (§42 Abgabenordnung). Wo diese Grenze im Einzelnen verläuft, ist Gegenstand zahlloser Rechtsstreite und Grundlage einer florierenden Industrie von „Tipps“ für die Bürger. Merke: „Missbraucher“ ist immer der andere.

Aktien darf man international kaufen und verkaufen, auch „über den Dividendenstichtag“, also den Tag der Hauptversammlung der Gesellschaft, die die Aktien ausgegeben hat. Dividenden sind „Kapitalertrag“, die Einkommens- (oder für juristische Personen: Körperschafts-)Steuer daraus (Kapitalertragssteuer, KESt) wird (als Quellensteuer) einbehalten und abgeführt. In Deutschland kann man sie sich unter Umständen anrechnen/erstatten lassen, in anderen Staaten nicht.

Aus diesem Grund wurden seit Jahrzehnten Aktien von ausländischen Inhabern kurz vor dem Dividendenstichtag ins Inland verkauft und kurz danach wieder zurückgekauft: Dividendenstripping. Dann erlangt der kurzzeitige inländische Inhaber die Erstattung und teilt sie sich mit dem ausländischen Rückkäufer über den Preis des (vorab vereinbarten) Rückkaufs (Future).

Ein Trick, dies besonders lukrativ werden zu lassen, bestand (oder besteht) darin, vor allem über Leerverkäufe und eine „Lieferung“ von „Kompensations“-Ansprüchen eine virtuelle „Verdopplung“ der Inhaberstellung zu erreichen, die zu einem Erstattungsanspruch des (deutschen) Leerkäufers führt, aber auch zu einem solchen des (dem Käufer unbekannt bleibenden) wirklichen Inhabers führen kann. Der Bundesfinanzhof hat im Jahr 1999 zur Entstehung der Ansicht beigetragen, auch dies sei zulässig.

Dass Cum-ex-Geschäfte mit Leerverkäufen massenhaft vor­kamen, wussten deutsche Finanz­behörden seit 20 Jahren. Ob sie illegal waren, war mitnichten so klar, wie heute behauptet wird. 2007 wurde eine Regelung eingeführt, die Steuerverluste „verringern“ sollte: Die Pflicht zur Abführung von KESt wurde dem Finanzdienstleister auferlegt, der für den (ausländischen) Aktienverkäufer das Geschäft mit dem (inländischen) Käufer ab­wickelt, also der inländischen De­potbank des ausländischen Ver­käufers.

Unbekannte „Lieferketten“

Leider taten die Depotbanken nicht, was im Gesetz stand und leicht hätte überwacht werden können, sondern leiteten die Pflicht an ausländische Geschäftspartner weiter, die keinen Anlass sahen, deutsche Kapitalertragssteuer abzuführen. Der – gutgläubige oder bösgläubige – deutsche Leerkäufer konnte sich die Steuer erstatten lassen, da er den Bruttopreis der Aktien an die Depotbank zahlte. Ob irgendwo auf der weiten Welt ein Aktieninhaber sich die (einmal einbehaltene) Steuer ebenfalls erstatten ließ, blieb im Dunkeln. Die „Lieferketten“ sind bis heute weithin so unbekannt wie die Zahlungsströme der großen Depotbanken.

Die Geschäfte wurden über viele Jahre von fast allen großen Banken in Deutschland betrieben. Besonders große Räder drehten die staatlichen Landesbanken: die WestLB, die HSH Nordbank, die LBBW zum Beispiel. In ihren Aufsichtsgremien saßen Politiker, die heute lauthals ihren „Abscheu über die Gier der Banker“ zu Protokoll geben.

Die Erfindung der „globalen Mafia“ hat für die Protagonisten des Narrativs den Vorteil, dass es, wie in allen geschlossenen Glaubenssystemen, auf Einzelheiten nicht ankommt. Zur Schuldzuschreibung reicht die Feststellung, ein Tatvorsatz vor 10 oder 15 Jahren sei „lebensnah“. Das ist eine Verdrehung der Beweislast und ein erstaunliches Argument: Das Offenkundige soll viele Jahre lang von allen Geschäftsteilnehmern erkannt worden sein, aber von keinem einzigen der Kontrolleure, die angeblich danach suchten.

In der ARD-Reality-Show vom 7. Juni drängte sich der Eindruck eines quasireligiösen Moralfeldzugs auf. Die Erfahrung zeigt, dass es gefährlich ist, wenn Moralschlachten mit Mitteln des Strafrechts und dem Anspruch auf Unfehlbarkeit geführt werden. Es entspricht der Empörungskultur, ist aber wenig förderlich für die Rechtskultur. Daher ist es auch im allgemeinen Interesse zu kritisieren.

Thomas Fischer war Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Als Rechtsanwalt ist er einer der Wahlverteidiger eines vom Landgericht Bonn am 1. Juni 2021 nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten im Cum-ex-Komplex (BZ vom 4.6.) und vertritt den Bankier Max Warburg im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft.