LEITARTIKEL

Das doppelte Antlitz der Börse

Der Aktienmarkt hat ein paradoxes Wesen: Das Antlitz der Ordnung erscheint, wenn Kurse auf lange Sicht betrachtet werden. Fast jeder Schock ist nach einigen Jahren ausgestanden, egal ob Ölkrise, Dotcom-Irrsinn, Terroranschlag oder Finanzkrise. Der...

Das doppelte Antlitz der Börse

Der Aktienmarkt hat ein paradoxes Wesen: Das Antlitz der Ordnung erscheint, wenn Kurse auf lange Sicht betrachtet werden. Fast jeder Schock ist nach einigen Jahren ausgestanden, egal ob Ölkrise, Dotcom-Irrsinn, Terroranschlag oder Finanzkrise. Der Pandemierutsch von März könnte einst als Krise in die Börsengeschichte eingehen, die noch im selben Jahr überwunden wurde. Über Jahrzehnte gerechnet fahren Anleger fast immer einen Gewinn ein, der mit zinsbasierten Instrumenten unerreichbar gewesen wäre. Ungefähr 7 % pro Jahr beträgt die Performance des deutschen Leitindex Dax, wenn er bis auf das Jahr 1970 zurückgerechnet wird. Aktien sind eine solide Wette.Doch chaotisch scheint alles, wenn sich der Blick auf das andere Antlitz richtet: Allein im März hat der Dax bezogen auf das Hoch im Februar bis zu 40 % verloren, womit sich zeitweise ein Unternehmenswert in mittlerer dreistelliger Milliardenhöhe aufgelöst hat. Die Finanzkrise schlug im Oktober 2008 mit einem zeitweiligen Kursverlust von minus 32 % ein. Im US-Aktienmarkt sticht der Schwarze Montag vom Oktober 1987 hervor, als der Dow Jones an nur einem einzigen Tag ohne offensichtlichen Grund um 23 % kollabierte. Ein so starker Einbruch ist nach der klassischen Wahrscheinlichkeitslehre, die von einer sauberen Verteilung der Kursausschläge entlang einer Glockenkurve ausgeht, im Grunde unmöglich. Ebenso kann auch die Dauer von Verlustphasen nicht vorhergesagt werden. Die Börse lässt sich nicht zähmen.Das doppelte Gesicht erscheint widersprüchlich, doch es entspringt derselben Natur: Hohe Renditechancen wären ohne unbeherrschbare Risiken kaum denkbar, beide Elemente gehören zusammen. Die Börse ist ein komplexes soziales Phänomen, ein Spiel mit einer Vielzahl an Akteuren, die bei aller Vorausschau stets auf einen niemals versiegenden Fluss an unvorhersehbaren Ereignissen reagieren und zugleich auf das Verhalten aller anderen achten – ein chaotisches System. Zugleich sind die Scharen aus Analysten, Investoren und Fondsmanagern in der Summe gut darin, die langfristigen Perspektiven von Unternehmen einigermaßen realistisch zu bewerten. Die Folge ist eine Entwicklung, die kurzfristig chaotisch ist, aber langfristig nach oben weist. Paradox. Das eine Element wäre ohne das andere undenkbar. Wären die Märkte – also die Summe der Investoren – tatsächlich irrational, wie manche suggerieren, wäre der langfristige Aufwärtstrend nicht erklärbar. Die Börse gliche dann einem Glückspiel, auf eine seriös einkalkulierte Risikoprämie, die langfristig hohe Renditen beschert, könnte niemand zählen. Gäbe es wiederum eine Möglichkeit, bisher unkalkulierbare Risiken tatsächlich greifbar zu machen – über eine Kristallkugel neben jedem Bloomberg-Terminal etwa -, gäbe es für eine Risikoprämie keine Begründung mehr und Aktien würden kaum mehr leisten können als sicher verzinste Anlageformen. Das Spiel ist aber viel zu komplex, um jemals durchschaubar zu sein. Das macht den Reiz der Börse aus. Weil Aktienmärkte kurzfristig so unberechenbar sind, gehört zu den Tugenden des Investierens immer auch Demut. Der Wunsch, Risiken greifbar zu machen, lockt auf die falsche Fährte. Die einen greifen zu Instrumenten der klassischen Wahrscheinlichkeitslehre, andere vermessen Kurse nach Lehre der “technischen Analyse”, wieder andere eruieren über Investorenumfragen Stimmungen oder lassen Computer in Daten eintauchen. Skepsis ist angebracht. Oft genug halten sich Märkte nicht an Normalverteilung, Kursformation, Modellprognose und Investorensentiment. Noch gefährlicher ist die Kontrollillusion, wenn Anleger mit dem Auf und Ab der Kurse spielen. Der rasche Handel hin und her oder gar gehebelte Instrumente haben schon viele Sparer ruiniert – was für eine Unkultur! Profis sollten diese Fehler eigentlich nicht begehen, doch das ist leichter gesagt als getan. Das Antlitz der Unordnung ist nun einmal die hässliche Seite der Aktienmärkte. Niemand sieht gerne hin.Groß ist die Herausforderung, trotz der chaotischen Seite für die Aktie zu werben. Vertrauen in das Antlitz der Ordnung muss hart erarbeitet werden. Fürsprecher der Aktie müssen erklären, wieso heftige Kursverluste nicht im Widerspruch stehen mit einer langfristig erfolgreichen Anlage. Sie dürfen nicht müde werden, die drei Prinzipien des Aktiensparens – eine breite Streuung, ein schrittweiser Ein- und Ausstieg und eine langfristige Perspektive – immer wieder zu wiederholen. Das gilt gerade, wenn die Börse wieder einmal zornig ist.——Von Jan SchraderUnkalkulierbare Risiken gehören am Aktienmarkt genauso dazu wie hohe Renditechancen. Vor der Gefahr einer Kontrollillusion sind selbst Profis nicht gefeit.——