KAPITALMARKT

Lehren aus der Mega-Euphorie

Vor 20 Jahren erreichte die Dotcom- und Neuer-Markt-Blase ihren Höhepunkt. Wie der Hype entstand und was Anleger heute daraus lernen können. Von Daniel Schauber Es war die Zeit, als Schauspieler Manfred Krug im heimischen Röhrenfernseher erschien...

Lehren aus der Mega-Euphorie

Vor 20 Jahren erreichte die Dotcom- und Neuer-Markt-Blase ihren Höhepunkt. Wie der Hype entstand und was Anleger heute daraus lernen können. Von Daniel SchauberEs war die Zeit, als Schauspieler Manfred Krug im heimischen Röhrenfernseher erschien und zur besten Sendezeit für die Telekom-Aktie warb wie andere für Fruchtgummi. Es war die Zeit, als ein “Recht auf Zuteilung” bei Neuemissionen am Neuen Markt ernsthaft diskutiert wurde. Es war die Zeit, als die Haffa-Brüder von EM.TV als eine Art Magier galten. Und es war die Zeit, als die Bild-Zeitung titelte: “Werden wir jetzt alle reich?”Denn reich waren viele damals, auf dem Höhepunkt der Internet-Euphorie, im März 2000, zumindest auf dem Papier. Auf dem Depotauszug hatten sie Anteilscheine von Unternehmen, die zwar kaum Umsatz und schon gar keinen Gewinn machten, dafür aber Millionen verbrannten und mit Milliarden bewertet waren.Knapp zwei Dekaden, also fast eine Generation später ist es an der Zeit, an die Lehren zu erinnern aus dem Phänomen, das als Dotcom-Blase und Neuer-Markt-Euphorie in die Börsengeschichte einging. Worauf müssen Anleger achten, wenn sie nicht wieder in eine solche Falle tappen wollen?Auf dem Höhepunkt des Hypes haben nicht nur Privatanleger, sondern auch Profis Bilanzen und Bewertungsmethoden kaum noch hinterfragt. Ein Newcomer wie Intershop war an der Börse zeitweise mehr wert als die Lufthansa. Ging ein Unternehmen aufs Börsenparkett, waren die Aktien schon bei der Erstnotiz ein Mehrfaches wert. “Das ist eben New Economy”, hieß es dann zur Erklärung. Aber es war nicht New Economy, es war Silly Money. “Diesmal ist alles anders”: Das sind bekanntlich die vier teuersten Worte an der Börse, und sie gelten unverändert. Denn genauso wenig wie Zauberer die Gesetze der Physik außer Kraft setzen können, kann ein Manager das kleine Einmaleins der Finanzmathematik brechen. Hoch bewertete Hoffnungswerte, bei denen Fundamentaldaten und Bewertung weit auseinanderzudriften drohen, gibt es auch heute wieder, etwa den Elektroautopionier Tesla. Wer hier engagiert ist, sollte die Risiken kennen.Wie aber kann man Übertreibungen an der Börse zuverlässig erkennen und Trickser entlarven? Gesunder Menschenverstand, ein genauer Blick und die akribische Analyse schützen zumindest vor den ganz bösen Überraschungen. Es ist zwar unmöglich, für ein Unternehmen einen hieb- und stichfesten Wert festzulegen, und für Wachstumsunternehmen gilt das in verschärftem Maße. Deshalb gehören Pleiten auch zur Grunderfahrung des Risikokapitalanlegers. Auf eine solide, methodisch fundierte Bewertung dürfen jedoch auch risikofreudige Anleger nicht verzichten. Wenn sich etwa mangels Gewinn kein Kurs-Gewinn-Verhältnis ermitteln lässt, so gilt als besonders verlässlich die Methode, künftig erwartete Cash-flows plausibel und konservativ zu prognostizieren und zu diskontieren. Bewertungsmethoden wie das Substanzwertverfahren scheiden bei innovativen Unternehmen in der Regel aus, da Wachstumsunternehmen oft nur ein geringes Sachvermögen aufweisen. Problematische Peergroup-VergleicheMit zahlreichen Problemen behaftet sind derweil Wertermittlungen durch Vergleiche mit den Börsenkursen ähnlicher Unternehmen (Peergroup). Derartige Peergroup-Vergleiche kamen auf dem Höhepunkt der Dotcom-Bubble verstärkt zum Einsatz, weil sie den höchsten Emissionspreis garantierten. Oft wurde dabei auf ein kaum überschaubares Sammelsurium von Kennzahlen zurückgegriffen, die angeblich einen Bezug zu den künftigen Gewinnen des Unternehmens haben sollten. So wurde etwa das durchschnittliche Kurs-Umsatz-Verhältnis der Vergleichsgruppe zur Bewertung herangezogen oder die Relation von durchschnittlicher Börsenkapitalisierung pro Nutzer (Internet) oder Börsenkapitalisierung pro Kunde (Mobilfunk). Höchst problematisch war hierbei, dass die Unternehmenswerte der in der Peergroup enthaltenen Firmen so ungeprüft “fortgeschrieben” wurden. Solche selbstreferenziellen Systeme müssen irgendwann zusammenbrechen.Auch die Auswahl der Vergleichsunternehmen war auf dem Höhepunkt des Booms mehr als zweifelhaft. Damals wurden viele winzige Internet-Start-ups am Neuen Markt bei der Ermittlung des Emissionspreises nicht nur an anderen (bereits extrem hoch bewerteten) Neuer-Markt-Werten gemessen, sondern auch an internationalen Branchengrößen wie AOL, Yahoo oder Amazon. Noch fragwürdiger wurde diese Methode, als auf dem Höhepunkt des Booms auf Emissionsabschläge zum Zeichnungsanreiz verzichtet wurde und wegen der hohen Nachfrage ein Zeichnungsaufschlag verlangt wurde. Über viele Jahre hinweg ergaben sich am Neuen Markt aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage bei der Erstnotiz eines Unternehmens Werte, die ein Vielfaches über den von den Konsortialführern ermittelten sogenannten “fairen” Werten lagen – und zwar auch dann, wenn die im Markt vorhandene Euphorie durch die Ermittlung des Unternehmenswerts anhand einer Vergleichsgruppe unter Zugrundelegung fragwürdiger Multiples bereits voll eingepreist war. Solche Börsenphänomene lassen sich kaum mehr wirtschaftswissenschaftlich, sondern allenfalls massenpsychologisch erklären. Rückblickend lässt sich sagen: Es gab auf dem Höhepunkt der Blase im Jahr 2000 mehr als ein Warnsignal, dass der Wahnsinn regierte am Neuen Markt. Die Tatsache, dass eine hohe Cash Burn Rate als Tugend und der Ausweis von Gewinn als Makel galt, waren nur die zwei stärksten.Gierige Emittenten und Manager auf der einen und blauäugige Anleger auf der anderen Seite, die sich auf einem zuweilen höchst intransparenten Kapitalmarkt begegneten – das war die toxische Mischung, die schließlich explodieren musste. In einem solchen Umfeld hatten es auch Gauner und Betrüger leicht. Das dreisteste Beispiel war wohl Comroad, bei der sich 2002 herausstellte, dass ein Großteil der Erlöse schlicht erfunden war. Auch das Softwarehaus Infomatec hatte die Anleger durch Mitteilungen über Millionenaufträge getäuscht, die es gar nicht gab. Und viele Unternehmen waren Luftnummern wie der Internet-Provider Gigabell, der vom einstigen Schlagersänger Daniel David geführt wurde. Gigabell war schließlich auch das erste Neuer-Markt-Unternehmen, das Konkurs anmelden musste – Mitte September 2000, vier Monate nachdem in den Medien erste Todeslisten kursiert waren. Denn wenn man damals die monatliche Cash Burn Rate und die noch vorhandene Liquidität ins Verhältnis setzte, so ließ sich erschreckend leicht ausrechnen, wann ein Unternehmen pleite sein würde. Am 5. Juni 2003 wurde der Neue Markt schließlich ganz geschlossen, doch er hat auch Gutes hinterlassen. Ein Blick auf Überlebende des Neuen Marktes (siehe Tabelle) führt auch vor Augen, welche Lehre Anleger aus dem Drama von damals ziehen können: Es kann sich nämlich durchaus lohnen, an Aktien festzuhalten, die Hype und tiefen Fall durchgemacht haben – vorausgesetzt, es handelt sich um Unternehmen mit einem soliden Geschäftsmodell. Das gilt etwa für den Anlagenbauer Aixtron, den Inspektionsspezialisten Basler, das IT-Systemhaus Bechtle, den Ingenieursdienstleister Bertrandt, den Chiphersteller Dialog Semiconductor, den Biotechwert Morphosys, das Softwarehaus Nemetschek, den Diagnostikspezialisten Qiagen oder den Internetdiensteanbieter United Internet. Wer sich beim Kauf der Aktien dieser Unternehmen eingehend mit dem Geschäftsmodell, der Sinnhaftigkeit der Unternehmensbewertung und der Qualität des Managements beschäftigte, der konnte zumindest ahnen, dass es sich bei diesen Unternehmen nicht um reine Luftnummern handelte, sondern um echtes Risikokapital, das auch große Chancen bietet. Dass echte Perlen unter den Unternehmen waren, die auf dem Gipfel des Booms an den Neuen Markt gelangten, ließ sich gerade erst am Beispiel des Automationsspezialisten Isra sehen, der für 1,1 Mrd. Euro vom schwedischen Maschinenbauriesen Atlas Copco übernommen wurde. Wer dagegen Aktien kaufte, nur weil sie ein als vertrauenswürdig erachteter Promi empfahl, weil seine Freunde von der Aktie schwärmten oder weil er einfach gierig war und schnell Millionär werden wollte, der konnte sein blaues Wunder erleben. An EM.TV, Kinowelt, Metabox oder Phenomedia (die “Moorhuhn”-Aktie) erinnern sich viele heute nicht mehr gerne. Und wer das “Glück” hatte, bei allen drei Emissionen der Telekom-Aktie zum Zug zu kommen, der sitzt auch wohl zwei Jahrzehnte später noch auf hohen Verlusten, kassiert aber immerhin Dividende und hat einen liquiden Wert im Portfolio.