Europas Bankensektor

Pandemie bewegt ein Viertel des Ertragspools

Oliver Wyman verortet Europas Bankensektor in einer entscheidenden Phase, in der weite Teile des Marktes zur Neuverteilung anstehen. Ertragsperspektiven locken unter anderem mit dem EU-Aufbauprogramm.

Pandemie bewegt ein Viertel des Ertragspools

Von Bernd Neubacher, Frankfurt

Nach knapp anderthalb Jahren Pandemie verortet Oliver Wyman Europas Bankensektor in einer entscheidenden Phase, in der weite Teile des Marktes zur Neuverteilung anstehen. Laut Berechnungen des Beratungshauses stehen infolge der Covid-19-Krise und des damit verbundenen wirtschaftlichen Einbruchs nicht weniger als bis zu einem Viertel des gesamten Ertragspools, also rund 160 Mrd. Euro, auf dem Spiel, „wenn es der Branche nicht gelingt, einen Beitrag zur Lösung einer Reihe neuer Herausforderungen zu leisten, vor die sich die Gesellschaft durch die Pandemie gestellt sieht“. Dies geht aus dem aktuellen European Banking Report der Gesellschaft namens „Ready To Lead: How Banks Can Drive the European Recovery“ hervor, welche die internationale Strategieberatung am heutigen Dienstag publizieren wird.

Die Summe von 160 Mrd. Euro hat Oliver Wyman ermittelt, indem es die Effekte des Kreditrisikomanagements in der Krise und unter anderem der Hinwendung von Kunden zu Ökosystemen, aber auch Ertragschancen etwa durch eine Finanzierung des grünen Wandels oder durch den EU-Aufbauplan summiert hat.

Zwar hat die Krise in den Ländern Europas, auch in Abhängigkeit von den jeweiligen Stützungsprogrammen, sehr unterschiedlich bei den Banken dort ins Kontor geschlagen (siehe Grafik). Insgesamt allerdings hat die Branche die Pandemie bislang besser verkraftet als zunächst prognostiziert. Die entsprechenden Belastungen des Sektors machen gerade einmal 60% des erwarteten Ausmaßes aus, wie Oliver Wyman berichtet.

Demnach hatte die Konsensschätzung zu den Kreditausfällen bei den an die europäische Bankenaufsicht berichtenden Instituten für das Jahr 2020 zunächst bei rund 200 Mrd. Euro gelegen. Letztendlich waren es nur 110 Mrd. Euro. Gleichwohl ist dies noch immer mehr als das Doppelte an Ausfällen als 2019. Seit Jahresbeginn haben 30% der quartalsweise berichtenden Banken Rückstellungen aufgelöst, und zwar im Durchschnitt 12%, wie es heißt. Die harte Kernkapitalquote der Häuser hat sich 2020 sogar verbessert, während öffentliche Hilfen ihnen nun neue Geschäftsmöglichkeiten er­öffnen.

„Große Chance“

„Es gibt jetzt noch einmal die große Chance für Banken, den Eindruck, dass sie Teil der Lösung sind und nicht Teil des Problems, zu verstärken“, erklärt Thomas Schnarr, Partner und Leiter der Financial Services Practice von Oliver Wyman in Deutschland und Österreich, der Börsen-Zeitung. In diesem Zusammenhang misst er dem über 800 Mrd. Euro schweren EU-Aufbauplan „Next Generation EU“ eine hohe Bedeutung besonders für Banken in Südeuropa zu. So böten zahlreiche Infrastrukturprojekte Banken die Möglichkeit, Erträge zu generieren, gibt er zu bedenken.

Dem Aufbauplan misst die Beratungsgesellschaft ein Ertragspotenzial für Europas Banken von 20 Mrd. Euro bei. Neue Optionen bringe überdies der Megatrend Nachhaltigkeit mit sich, zählt Schnarr auf. So könnten sich Kreditinstitute als Drehscheibe der erwarteten Kapitalflüsse gerieren und auf diese Weise helfen, die grüne Transformation voranzubringen. „Banken bleiben der natürliche Transmissionsriemen für große politische Vorhaben wie die grüne Transformation, und es wäre eine verpasste Chance, wenn sie diese Möglichkeit nicht wahrnähmen. An dieser Stelle können Banken einen großen Beitrag leisten, um Finanzströme zu lenken und Risiken zu verteilen“, konstatiert Schnarr.

Zugleich schätzt er den Megatrend als zweischneidiges Schwert ein. Denn die Institute haben nicht nur umfangreiche regulatorische Anforderungen zu meistern, sondern müssen zudem auch ihre Finanzierungsmodelle ändern. Sie müssten künftig Unternehmen Strukturen finanzieren, die es so noch nicht gebe, sagt Schnarr. Ein elektrisch betriebener Hochofen etwa erfordere vollkommen andere Investitionen als eine herkömmliche Anlage, und er amortisiere sich auch deutlich später. Allein der Finanzierung dieses Übergangs schreibt Oliver Wyman ein Ertragspotenzial von 25 Mrd. bis 50 Mrd. Euro zu.

Während Nachhaltigkeit schon seit längerem in aller Munde ist, hält der Manager die Folgen der geplanten Kapitalmarktunion noch für vollkommen unterbeleuchtet. Politische Entscheider messen diesem Thema eine weitaus größere Bedeutung als Banker zu, sagt Schnarr und erklärt: „Die Schlagkraft, die die Kapitalmarktunion entfalten kann und wird, ist enorm, auch in Verbindung mit der Green Recovery. Das Projekt ist zwar sehr langfristig angelegt, aber ich glaube schon, dass schon in fünf Jahren ein Teil der Abhängigkeit von der Bankfinanzierung abgelöst sein wird.“

Das Ertragspotenzial einer Kapitalmarktunion veranschlagt Oliver Wyman auf nochmals 15 Mrd. bis 20 Mrd. Euro. Vor diesem Hintergrund müssten sich Banken fragen, wie sie ihren Kunden einen Zugang zum Kapitalmarkt ebnen könnten und auf welches Angebot sie sich dabei konzentrieren wollten, erklärt Schnarr. Als ebenso entscheidenden Erfolgsfaktor macht er dabei zugleich die Fähigkeit der Banken aus, Kontrolle über ihre Kosten und die Betriebssicherheit auszuüben. Helfen könnten dabei infolge der Automatisierung etwa Instrumente, die das Risikomanagement über Entwicklungen bei bestimmten Schuldnern auf dem Laufenden hielten, da sie entsprechende Informationen aus dem Internet sammelten.

Heimatmarkt hat Priorität

Einen Platz im Finanzmarkt in Zeiten einer Kapitalmarktunion zu finden, sieht Oliver Wyman allerdings als Aufgabe für Banken mit einem Horizont von mehr als fünf Jahren an; dasselbe gelte für den Aufbau einer digitalen Ökonomie sowie einer neuen finanziellen Infrastruktur unter anderem im Zuge digitaler Zentralbankwährungen, heißt es im European Banking Report. Zuvor werde es darum gehen, den Übergang in eine kohlenstoffarme Wirtschaft zu finanzieren sowie das Problem der Überkapazitäten und die Aufgabe der Rationalisierung anzugehen. Fürs Erste, also auf Sicht von zwei Jahren, komme es für Banken darauf an, sich von den Stützungsmaßnahmen in der Pandemie zu lösen und am Aufbauprogramm der EU zu partizipieren

In der latent virulenten Debatte um eine Konsolidierung im europäischen Bankensektor hat Schnarr unterdessen den Eindruck gewonnen, dass sich die Branche zunehmend vom Modell der Universalbank verabschiedet. „Institute in Skandinavien, Italien und Großbritannien legen stärker denn je ihren Fokus auf den Heimatmarkt“, erklärt er und verweist auf das Beispiel von Instituten, die sich von Retail-Aktivitäten trennen. So hat Spaniens BBVA ihr US-Geschäft für 12 Mrd. Dollar an PNC Financial veräußert, die niederländischen Kreditinstitute ABN Amro und Rabobank ziehen sich unterdessen als Direktbankanbieter aus dem deutschen Markt zurück. Schnarrs Erklärung: „Die Spezialisierung ist im Bankensektor voll angekommen und schon so weit vorangeschritten, dass es für Banken immer schwieriger wird, das gesamte Spektrum der Dienstleistungen darzustellen. Die entsprechenden Investitionen können nur mehr US-Banken tätigen. Außerdem gelingt es nur mehr den wenigsten Banken, Analysten davon zu überzeugen, dass die Universalbank ein gutes Geschäftsmodell ist. Eher gibt es einen Konglomeratsabschlag.“

Ende der Gewissheiten

Das neue Umfeld und die mögliche europäische wirtschaftliche Erholung böten „gerade auch den vielen kleineren und mittelgroßen deutschen Banken eine ausgezeichnete Gelegenheit, die eigene Position in der sich beschleunigenden Konsolidierung zu finden und von den Veränderungen zu profitieren“, argumentiert Schnarr.

Für deutsche Institute fällt diese Zeit ohnehin zusammen mit dem Ende einer Reihe von historischen Gewissheiten, wie das Beratungshaus zu bedenken gibt: Die Ära Merkel gehe zu Ende, der künftige politische Rahmen und dessen Bedeutung für Banken seien ungewiss, die Sicherungssysteme deutscher Banken würden nicht nur von der Aufsicht kritisch beäugt, sondern auch durch Vorfälle wie Greensill auf die Probe gestellt, und aufgrund der Zinssituation ändere sich zudem das Anlageverhalten der Deutschen rasant.

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