WAS EINE ZINSWENDE BEDEUTET - SERIE ZUR ZINSWENDE: EINLEITUNG (TEIL 1)

Schwerer Entzug

Ende des Experiments negativer Zinsen führt Kreditwirtschaft auf Neuland - Bundesbank sorgt sich über Bilanzrisiken

Schwerer Entzug

Das Auslaufen der Politik des billigen Geldes stellt die Kreditwirtschaft vor ein Dilemma: Steigen die Zinsen zu langsam, werden die Erträge im Kreditgeschäft weiter zerrieben. Steigen die Zinsen zu schnell, schießen die Refinanzierungskosten in die Höhe. Die ersehnte Zinswende wird ein Drahtseilakt.Von Bernd Neubacher, FrankfurtDie zurückliegende Dekade begann für Treasurer schwierig: mit spektakulären Bankenzusammenbrüchen, staatlichen Stützungsaktionen und allem anderen, was zu einer ausgewachsenen Finanzkrise dazugehört – und nicht selten von den Kollegen im eigenen Haus verursacht worden war. Gerade wegen der Krise aber war auf eines Verlass: Die Zinsen sanken und sanken, was einem Treasurer die Refinanzierung deutlich erleichterte. Und als ein natürlicher Boden erreicht schien, gingen die Leitzinsen in den negativen Bereich, und damit sie dort unten blieben, begann die Notenbank, im großen Stil Anleihen zu kaufen. Das hat für Entspannung gesorgt.Doch spüren die Manager in der Finanzwirtschaft längst die Nebenwirkungen der ultralockeren Geldpolitik: Banken sehen sich seit Jahren mit einem Abschmelzen der Zinserträge ihres Kreditportfolios konfrontiert, während sie für Einlagen ihrer Kunden der Notenbank Geld zahlen müssen. Mit ihrer enormen Nachfrage drängt die Europäische Zentralbank (EZB) andere Investoren, Versicherer und Altersvorsorgeeinrichtungen an den Rand.Weil Zinsen entlang der Nullschwelle über kurz oder lang jede Bank ruinieren, wird die Notenbank ihre Geldpolitik früher oder später ändern müssen. Ein erstes Signal hat die EZB bereits gesendet: Trotz einer spürbaren Abkühlung der Euro-Wirtschaft und zunehmender Risiken für den Aufschwung hat sie zum Jahresende den Kauf vor allem von Staatsanleihen beendet, auch wenn sie bis weit ins Jahr 2019 hinein an den rekordniedrigen Leitzinsen festhält und Gelder aus auslaufenden Anleihen noch einige Jahre lang reinvestieren will. Heikler AusstiegJetzt wird es kompliziert. Denn mit Blick auf die Geldpolitik wird nun die Ungewissheit in den Markt zurückkehren. Auf der einen Seite haben sich die Erwartungen hinsichtlich einer Zinswende zuletzt verflüchtigt. So ist die US-Renditestrukturkurve während des gesamten Jahresverlaufs 2018 zunehmend verflacht und lässt inzwischen eine Konjunkturskepsis erkennen, die steigende Zinsen eigentlich nicht mehr rechtfertigt. Mancher Beobachter fragt denn auch schon, ob die EZB den Zeitpunkt für den Einstig in die Zinswende nicht bereits verpasst habe. Der Zins-Spread zwischen dem Euro- und dem Dollar-Raum jedenfalls ist derzeit so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr, wie es bei altgedienten Kapitalmarktvorständen nicht ohne Sorge heißt.Auf der anderen Seite schlägt schon die geringste Aussicht auf einen Rückzug der Notenbank aus ihrer ultralockeren Geldpolitik am Primärmarkt Wellen. So haben sich die Risikoaufschläge von Neuemissionen nach Ankündigung der EZB, das Volumen der Anleihekäufe zu begrenzen, merklich erhöht, wie aus dem Markt berichtet wird. Die EZB kaufte demnach lange Zeit “preisinsensitiv” Emissionen von Investment-Grade-Anleihen, und zwar jeweils 20 bis 25 % des Volumens. Die Unbekannte TLTROVerstärkt wird die mit dem Zinsumfeld verbundene Unsicherheit durch in der EZB angestellte Überlegungen, im kommenden Jahr mit Hilfe eines Langfrist-Tenders (Targeted Longer-Term Refinancing Operations, TLTRO) im großen Stil abermals Liquidität in das System zu pumpen. Zugegeben: Dies stünde in krassem Widerspruch zum propagierten Ausschleichen aus der ultralockeren Geldpolitik. Das aber ist offenbar für manches Mitglied im EZB-Rat kein Grund, solche Überlegungen vor allem mit Blick auf die Banken in Italien zu verwerfen. So erklärte im Oktober Frankreichs Notenbankpräsident François Villeroy de Galhau, der EZB-Rat müsse sich mit der Frage der Langfrist-Tender beschäftigen. EZB-Präsident Mario Draghi zufolge haben zwei Mitglieder des 22-köpfigen Rates das Problem im Gremium bereits angesprochen.2016 hatten Banken im Zuge eines vierjährigen Tenders gut 380 Mrd. Euro aufgenommen und bei einem weiteren Geschäft nochmals gut 230 Mrd. Euro. Der Zinssatz lag zunächst bei null Prozent, mit der Aussicht auf eine Reduktion des Satzes auf jeweils minus 40 Basispunkte, falls die Banken mit dem Geld ihre Kreditvergabe ausweiten. Zwar werden die Mittel erst im Juni 2020 sowie im März 2021 fällig. Die Frage eines neuen Langfrist-Tenders aber ist dringender, als es scheinen mag, denn aus regulatorischen Gründen können die Mittel schon ab Juni kommenden Jahres nicht mehr zur Erfüllung der Liquiditätskennziffern herangezogen werden können, wie die “Neue Zürcher Zeitung” jüngst vorrechnete.Einer Analyse der Commerzbank zufolge hielten die italienischen Banken Anfang 2018 noch TLTRO-Mittel von 251 Mrd. Euro in ihren Bilanzen. Spanische Banken kamen auf 170 Mrd. Euro, französische Institute auf 114 Mrd. und deutsche auf immerhin 94 Mrd. Euro. Bleibt ein weiterer Langfrist-Tender aus, können sich die Banken über den Interbankenmarkt, über kurzfristige Offenmarktgeschäfte der EZB, über eine Erhöhung der Einlagenbasis oder mit Hilfe des Kapitalmarkts refinanzieren – allerdings kaum zu minus 40 Basispunkten, wie die Analysten der Nord/LB deutlich machen. Je nach Instrument wären die Auswirkungen auf die Profitabilität teils erheblich.In den Sternen steht auch, inwieweit die EZB Einnahmen aus fällig gewordenen Anleihen wiederanzulegen gedenkt. Im Markt wurde bereits die Erwartung geäußert, die Notenbank werde vor allem sieben- bis zehnjährige Papiere kaufen im Versuch, die Zinsen im mittleren Laufzeitenbereich zu drücken. Jens Tolckmitt, Hauptgeschäftsführer des Verbands deutscher Pfandbriefbanken (VDP), hält dies freilich für “Orakelleserei”. Studien ließen unterschiedliche Schlussfolgerungen zu. Die Zinsspanne zerbröseltViel länger darf die Zeit der Nullzinspolitik aus Sicht der Banken nicht dauern – schon angesichts eines seit Jahrzehnten sinkenden Zinsniveaus mit entsprechenden Folgen für die Zinsmarge kann ihnen eine geldpolitische Wende nur guttun. Zugleich aber drohen der Kreditwirtschaft mit dem Abschied der EZB von negativen Zinsen schwere Probleme, falls sich die Notenbank auf der Rückkehr von ihrem Ausflug in Gefilde, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat, auch nur den kleinsten Fehltritt leisten sollte: Steigen die Zinsen zu langsam, wird dies weiter den Zinsüberschuss der Kreditinstitute zerreiben, da höher verzinste Forderungen sukzessive auslaufen, während das Neugeschäft ungleich weniger abwirft. Steigen die Zinsen dagegen zu schnell, schießen die Refinanzierungskosten in die Höhe, ohne dass ihnen bereits entsprechende Erlöse gegenüberstehen.Da die früher oder später unausweichliche Wende in der Geldpolitik damit über Wohl und Wehe der Kreditwirtschaft entscheidet, ist auch der Aufsicht der Schreck in die Glieder gefahren. Seit 2015 erhebt sie daher im Zwei-Jahres-Rhythmus, wie sich die niedrigen Zinsen und verschiedene Zinsszenarien auf die Banken auswirken.Die Berechnungen belegen vor allem, dass es für die Banken keine Alternative zum Ausstieg aus der momentanen Geldpolitik gibt. Bei konstanten Zinsen würde ihre Gesamtkapitalrentabilität bis 2021 um etwa 40 % sinken; bei einem nochmaligen Rückgang des Zinsniveaus sogar um deutlich mehr als die Hälfte. Zwar kämen die Banken demnach auf längere Sicht am besten weg, würden die Zinsen kräftig steigen. Leider aber würde dies ihren Jahresüberschuss vor Steuern binnen Jahresfrist von 0,5 % der Bilanzsumme auf nur mehr gut 0,2 % fallen lassen, auch weil ein solcher Zinsschock die Wertberichtigungen in die Höhe treiben würde. Auf Fünfjahressicht würde der Jahresüberschuss vor Steuern dagegen um 7 % zulegen, während er in allen anderen von der Aufsicht durchgespielten Szenarien um 16 % bis 60 % fallen würde. Zittern im Corporate Banking Die Effekte der Zinssenkungen, die einst den Instituten halfen, da sie deren Zinsspanne dank günstigerer Refinanzierung nach unten erweiterten, werde noch für einige Zeit gegen die Häuser laufen, weil es dauern wird, bis die im Zinstief zu mickrigen Sätzen vereinbarten Forderungen abgelaufen sein werden. Hinzu kommt gerade im Firmenkundengeschäft ein harter Wettbewerb, der es den Banken erschweren dürfte, bei den Kunden höhere Kreditzinsen durchzusetzen: Es gibt Firmenkundenvorstände, denen schon angst und bange wird beim Gedanken, wie sie Kunden mit Verweis auf die Geldpolitik höhere Sätze verkaufen sollen, während sie ihnen für Einlagen noch Strafzinsen in Rechnung stellen.In dem seit langem anhaltenden positiven konjunkturellen Umfeld hätten sich “latente, zyklische Risiken im deutschen Bankensektor aufgebaut”, hat denn auch die Deutsche Bundesbank bereits gemahnt. Im Jahr 2018 dürfte der Ergebnisbeitrag aus der Fristentransformation das Zinsergebnis erneut stützen, wie die Zentralbank im September in ihrem jährlichen Bericht zur Ertragslage der deutschen Kreditinstitute feststellte. “So ist einerseits der Zins für Wohnungsbaukredite privater Haushalte im Neugeschäft mit anfänglicher Zinsbindung über zehn Jahre im Vergleich zum Jahresende 2017 weiter leicht gestiegen, während andererseits die Zinskosten für Sichteinlagen privater Haushalte im gleichen Zeitraum nochmals geringfügig sanken.”Zugleich hieß es aber: “Die mit dieser Bilanzstruktur eingegangenen Zinsänderungs- und Liquiditätsrisiken dürften sich im Falle eines Zinsanstiegs jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit materialisieren und sich dann negativ auf die Ertragslage auswirken.” Erhöhte ZinsänderungsrisikenIm Nullzinsumfeld haben die Banken nicht nur das Kreditvolumen, wie von der Geldpolitik beabsichtigt, kräftig ausgeweitet. Sie haben auch die Fristentransformation erhöht, sich also eher kurzfristig refinanziert, die Mittel aber langfristig ausgereicht, wie die Bundesbank beobachtet hat. Vor allem kleine und mittelgroße Institute zeigten dabei einen hohen Fristentransformationsgrad: “Nach aufsichtlicher Definition weisen derzeit 63 % der Kreditgenossenschaften und 42 % der Sparkassen erhöhte Zinsänderungsrisiken auf.”Dies schlägt sich nieder im Anstieg der hypothetischen Barwertverluste im Szenario des Baseler Zinsschocks: Mit diesem Instrument wird das Zinsänderungsrisiko gemessen, indem der Effekt eines über Nacht wirkenden Zinsschocks auf den Barwert zinssensitiver Aktiv- und Passivpositionen im Bankbuch eines Instituts ermittelt wird. Allerdings haben die Institute in den vergangenen Jahren nicht nur das Kreditvolumen hochgejazzt, sondern parallel Eigenkapital aufgebaut, das Belastungen infolge einer Zinswende auffangen könnte (siehe Grafik) – gemäß der negativen Barwertveränderung durch den Baseler Zinsschock müssen Banken Kapitalzuschläge für das Zinsänderungsrisiko erfüllen. Hinzu kommen individuelle Kapital-“Empfehlungen” im Zuge des Aufsichtlichen Überprüfungs- und Bewertungsprozesses (Supervisory Review and Evaluation Process, SREP). “Im Median betragen diese Empfehlungen für kleine und mittelgroße Institute rund 2,5% der risikogewichteten Aktiva”, teilt die Bundesbank mit. Diese Zuschläge können abgesenkt werden, wenn die Bewertung der Qualität des Risikomanagements einer Bank dies zulässt. Wenn die Risikovorsorge drehtDie Mechanik der Fristentransformation ist nicht das einzige Problem. Denn steigende Zinsen dürften manchen Schuldner aus der Kurve tragen. Banken, die zuletzt Risikovorsorge sogar auflösen konnten, werden somit voraussichtlich steigende Belastungen verbuchen.In ihrem im November publizierten Finanzstabilitätsbericht gibt die Bundesbank offenbar auch mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen von Handelsstreiten zu bedenken, dass Kreditausfälle stärker als erwartet steigen könnten und dies die freien Eigenmittel der Banken stark reduzieren würde, sollten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schlagartig verschlechtern.Gleichzeitig würden dann die risikogewichteten Aktiva und damit die regulatorischen Eigenkapitalanforderungen für Kredit- und Marktrisiken zunehmen. Die Folgen der Einführung des Bilanzstandards IFRS 9, demzufolge Banken die Bildung von Risikovorsorge künftig vom erwarteten und nicht mehr vom eingetretenen Verlust abhängig machen müssen, könnte dann als Brandbeschleuniger in den Bilanzen wirken, wie im Markt befürchtet wird. Der Worst Case: ein Konjunktureinbruch in einer Phase steigender Zinsen.Wie schnell darf also ein Zinsanstieg kommen? Wie lang darf die Durststrecke dauern, die entsteht, wenn hochverzinste Forderungen auslaufen und die Zinsen im Neugeschäft nach wie vor auf deutlich niedrigerem Niveau liegen? Und wie wappnen sich Kreditinstitute für den aufregendsten Freilandversuch der Geldpolitik, den nicht nur die EZB, sondern auch die Bundesbank jemals erlebt hat?Diesen und anderen Fragen geht die Börsen-Zeitung in einer neuen Serie mit dem Titel “Was eine Zinswende bedeutet” nach. Zu Wort kommen werden Banker, die erläutern, wie sie die Bilanz eines Instituts mit der Aussicht auf wieder steigende Zinsen steuern. Das Risiko notleidend werdender Forderungen wird ebenso Thema sein wie unter anderem die Folgen eines Zinsanstiegs auf das Verhalten der Einleger, auf den Immobilienmarkt, im Fondsgeschäft. Lesen Sie mehr in den nächsten Ausgaben der Börsen-Zeitung.