„Was haben wir denn außer Europa?“
„Was haben wir denn außer Europa?“
Politische Analysten suchen zusammen mit den Sparkassen Antworten auf die globalen Krisen
Von Andreas Heitker, Nürnberg
Das Daumendrücken kommt von überraschender Seite: Er wünsche der Merz-Regierung „jeden nur denkbaren Erfolg“, stellte der frühere grüne Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer am Mittwoch in Nürnberg klar. Er wünsche sich einen Kanzler, „der dieses Land und Europa voranbringt“.
Der mittlerweile 77-Jährige ist nur einer von mehreren hochrangigen politischen Analysten, die auf dem diesjährigen Sparkassentag versuchen, Antworten auf die vielen globalen Krisen zu geben, die die Demokratien des Westens derzeit auf die Probe stellen, und neue Utopien zu finden. Fischers Bestandsaufnahme fällt eher düster aus. Die deutsche Politik habe seit der Einheit zu wenig Perspektiven gegeben und zu viel Business as usual agiert, kritisiert er. Dabei sei die Abkehr der USA von Europa schon seit Jahren absehbar gewesen – und nicht erst seit Amtsantritt von Präsident Donald Trump.
Kein Verlass mehr auf die USA
„Wir können uns auf Amerika nicht mehr verlassen“, schreibt der langjährige Grünen-Vordenker den rund 3.000 Sparkassentag-Besuchern in die Bücher. Auch zweifelt er an einer dauerhaften Existenz der Nato. „Es ist unser existenzielles Interesse, abschreckungsfähig zu werden.“ Für Fischer ist klar, dass die Antwort eine Stärkung Europas sein muss. Klein- und Mittelstaaten, sagt er, hätten keine Zukunft. Es gehe nur gemeinsam.
Ukraine und Belarus im Fokus
„Was haben wir denn außer Europa?“, fragt der Ex-Minister und verweist darauf, dass er die EU-Politik von Ampel-Kanzler Olaf Scholz nie verstanden habe. „Er hatte keine.“ Dabei müsse Europa eine eigenständige Macht werden, betont Fischer. Dies sei die Botschaft, die Trump ebenso wie der russische Präsident Wladimir Putin an den Westen sende.
Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevic, der für seinen Roman „Europas Hunde“ in diesem Jahr den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten hatte, rief in Nürnberg davor auf, in diesem stärkeren Europa nicht Belarus und die Ukraine zu vergessen. Beide Länder gehörten zu Europa – auch wenn Belarus aktuell von russischer Propaganda quasi vergiftet werde. Bacharevic, der mittlerweile in Deutschland im Exil lebt, warnte in diesem Zusammenhang auch vor Zugeständnissen im Ukraine-Krieg. Dies würde Sklaverei für Millionen von Menschen bedeuten, die eigentlich zu Europa gehörten.
Warnung vor einem Sieg Putins
Die US-polnische Historikerin Anne Applebaum, die 2024 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hatte, schloss sich dem in noch drastischeren Worten an: Wenn die Ukraine aufgegeben werde und Putin den Krieg gewinne, sei dies der Anfang des Niedergangs des Westens, lautete die Analyse der Pulitzer-Preis-Trägerin. Dies würden nämlich Diktaturen der ganzen Welt als Freibrief interpretieren, beispielsweise China mit Blick auf Taiwan. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler verweist auf dem Sparkassentag darauf, dass Putin in Russland mittlerweile eine hochgerüstete Kriegsökonomie aufgebaut habe. Eine Abrüstung falle nach einem Ende des Ukraine-Kriegs schwer. Putin werde die Armee dann womöglich weiter im Ostsee-Raum einsetzen, warnte Münkler in der Debatte.
EU muss Einstimmigkeit kippen
Der bereits emeritierte Professor und erfolgreiche Buchautor („Welt in Aufruhr“) sieht ebenfalls die EU gefragt, kritisierte aber ebenso wie Applebaum das Einstimmigkeitsprinzip, dass die Union der 27 Staaten ausbremst. Diese Regel müsse fallen, forderte Münkler.
Ex-Außenminister Fischer hatte aber noch eine andere Botschaft an den Sparkassentag: Er verwies auf die zerstörten Städte in Deutschland in den 1950-er Jahren. Da seien die Herausforderungen für das Land ganz anders als heute gewesen, betonte er. Da gelte es heute auch mal, nicht immer „so weinerlich“ zu sein.