Anlagethema im Brennpunkt (193)

Passive Anlagen verändern Marktstruktur und Marktverhalten

Altersvorsorgeprodukte und systematische Strategien sind zwei treibende Kräfte hinter den starken Zuflüssen in passive Produkte.

Passive Anlagen verändern Marktstruktur und Marktverhalten

Mit passiven Anlagen können Investoren schnell, kostengünstig und vermeintlich ohne Nachteile in die verschiedensten Anlageklassen und Regionen investieren – sogar wenn die zugrundeliegenden Wertpapiere wenig liquide sind. Ihre steigende Bedeutung hinterlässt jedoch Spuren im Verhalten des Gesamtmarktes und bei Einzeltiteln.

Viele Anleger verzichten bei ihrem Einstieg in den Kapitalmarkt darauf, attraktive Wertpapiere selbst auszuwählen oder einen aktiven Portfoliomanager zu engagieren. Sie investieren vielmehr Geld in einen passiven Indexfonds oder ETF (Exchange Traded Fund). Ein Großteil des amerikanischen Aktienmarktes ist heute im Besitz von Indexfonds und ETFs. So sind die Indexfonds- und ETF-Anbieter inzwischen zu den größten Vermögensverwaltern der Welt aufgestiegen. Bei neun von zehn Unternehmen im S&P 500 ist der größte Einzelaktionär einer der drei großen ETF-Anbieter BlackRock, Vanguard oder State Street.

Altersvorsorgeprodukte und systematische Strategien sind zwei treibende Kräfte hinter den starken Zuflüssen in passive Produkte. Während die ältere Generation, die jetzt in Rente geht, noch primär aktive Fonds bespart hat, setzen die jüngeren Generationen bei der Altersvorsorge stärker auf passive Produkte. Systematische Strategien, wie beispielsweise auch Robo Advisors, setzen ebenfalls aufgrund der Einfachheit und vermeintlichen Liquidität vorwiegend auf Indexprodukte. Auch wenn ETFs für viele Anleger attraktiv bleiben und nicht kategorisch ausgeschlossen werden sollten, hat die zunehmende Dominanz passiver Anleger auch nachteilige Effekte für die Kapitalmärkte.

Ineffizientere Allokation

So begünstigt passives Investieren erstens eine ineffizientere Kapital­allokation. Wenn ein ETF-Anbieter Nettozuflüsse verzeichnet, werden die zugrundeliegenden Indexbestandteile proportional zur Indexgewichtung gekauft, in der Regel unabhängig davon, wie fundamental teuer oder günstig die Titel sind. Während aktive Manager in einem teuren Marktumfeld tendenziell mehr Kasse halten oder günstigere Wertpapiere kaufen, investieren ETF-Manager die Zuflüsse direkt zu 100% und kaufen besser gelaufene Titel schrittweise mehr nach als schlechter gelaufene Wertpapiere. Es werden weder schlechte Anlagen aktiv abgestoßen noch gute auswählt. Damit ist passives Investieren weitgehend preis­unelastisch und prozyklisch, was zumindest teilweise den enormen Anstieg der Bewertungen der letzten Jahre vor allem in den USA, dem Markt mit der größten passiven Durchdringung, begründet. Zudem wird netto mehr Geld in die Aktienmärkte investiert, wenn aktive Fonds, die in der Regel 2 bis 5% Kasse halten, verkauft und dafür ETFs, die zu 100% in Aktien investiert sind, gekauft werden. Auch werden eher Growth- als Value-Unternehmen unterstützt, da beispielsweise Unternehmen, die Dividenden zahlen, durch passives Investieren „bestraft“ werden. Die Dividende wird bei vielen Indexanbietern nicht ausschließlich in das dividendenzahlende Unternehmen, sondern in den ganzen Index reinvestiert. Schließlich werden oft Unternehmen mit geringer Marktkapitalisierung be­nachteiligt, da diese seltener und wenn mit einem geringeren Gewicht in den gängigen Indizes vertreten sind.

Zweitens verschlechtert passives Investieren den Informationsgehalt von Marktpreisen. Selbst bei marktkapitalisierten Indizes entsteht ein Problem durch vermehrt passives Investieren. In der Realität kaufen passive Anleger nicht lediglich das exakte „Marktportfolio“, sondern nur eine Annäherung dessen. Nicht alle Titel sind im Index vertreten, und es kommt immer wieder zu Veränderungen der Indexzusammensetzung. Außerdem kaufen ETF-Anbieter nicht immer alle Indexbestandteile, sondern mitunter nur die größten Titel mit der höchsten Liquidität. Auch setzen Anleger selektiv auf Regionen, Segmente oder Investmentstile. So ziehen die sogenannten Mega Caps besonders viel Geld auf sich. Insbesondere US-Techtitel, welche durch passive, thematische und ESG-Investitionen begünstigt werden, profitieren, da sie eine große Gewichtung in den entsprechenden Indizes ausmachen. Schließlich führt die zunehmend passive Abbildung von Themeninvestments zu deutlichen Bewertungsverzerrungen bei einzelnen, illiquideren Small Caps, da diese als „Pure Plays“ oft überproportional bei Themenvehikeln eingesetzt werden.

Passives Investieren verändert drittens die Liquiditätssituation am Markt. Die Liquidität am Markt konzentriert sich immer stärker auf wenige, hochkapitalisierte Börsenunternehmen. Außerdem verlagert sich die Liquidität immer mehr in Richtung Handelsschluss, da die Schlusskurse der getrackten Indizes die Benchmark für ETFs darstellen. Folglich versuchen passive Anbieter, möglichst viele Transaktionen zur Schlussauktion durchzuführen, um den Tracking Error zu reduzieren. Zudem können zwar ETFs in einem normalen Marktumfeld auf Basis eines weniger liquiden Underlyings die Liquidität erhöhen, in Stressphasen ist diese Liquidität aber möglicherweise nicht gegeben. Anleger laufen Gefahr, einer Liquiditätsillusion zu erliegen.

Extreme Bewegungen

Viertens treibt passives Investieren zunehmende extreme Marktbewegungen. Im Jahr 2020 gab es über alle Anleiheklassen hinweg nahezu dreimal so viele abrupte, scharfe Marktbewegungen wie im Finanzkrisenjahr 2008. Der wesentliche Grund für das veränderte Marktverhalten liegt unserer Einschätzung nach in der Diskrepanz von kontinuierlich steigenden Liquiditätsanforderungen und der sich verschlechternden (Qualität der) Marktliquidität. So ist zunehmend ein prozyklisches und trendverstärkendes Verhalten vieler Marktteilnehmer mittels passiver Anlagen, oftmals auch mit Ansätzen systematischer Anlagestrategien, zu beobachten. Mit einer sinkenden Zahl marktkonträrer Akteure wie beispielsweise Value-Investoren kommt es daher immer wieder zu Übertreibungen und scharfen Korrekturbewegungen – zumal die passiven Indexprodukte auch zu höheren Korrelationen in Abverkäufen führen, weil undifferenziert einfach alle Indexbestandteile verkauft werden.

Passives Investieren ist fünftens für aktive Anleger Fluch und Segen zugleich. Auch wenn ineffizientere Märkte aktiven Anlegern immer mehr Chancen bieten, kann es bei kontinuierlich starken Zuflüssen in passive Anlagen lange dauern, bis die Fundamentaldaten greifen. Eine fundamental richtige Anlageentscheidung wird möglicherweise langfristig nicht aufgehen, solange die passiven Kapitalflüsse in die andere Richtung laufen. Auch wenn der Trend zu passivem Investieren irgendwann an Momentum verlieren dürfte, ist vorerst weiter mit deutlichen Zuflüssen bei passiven Anlagen zu rechnen.

Chancen für aktive Anleger

Die zunehmende Ineffizienz der Märkte und vermehrte Übertreibungen bieten aktiven Anlegern tendenziell mehr Chancen. So können aktive Anleger versuchen, das Verhalten passiver Anleger zu antizipieren und sich entsprechend positionieren. Aktive Anleger sollten ETFs insbesondere für taktische Positionen oder in effizienten Märkten wie dem US-Aktienmarkt­ einsetzen. Zudem ist es für aktive Anleger vorteilhaft, sich in Nischenmärkten zu bewegen, die noch keine oder nur eine geringere ETF-Durchdringung haben. Aktive Anleger sollten sich zudem der Chancen und Risiken von passiven Kapitalflüssen bewusst sein und sich dieses Wissen zunutze machen. Beispielsweise nimmt die Analyse von Sentiment, Anlegerflüssen und Positionierungsdaten eine zunehmend zentralere Rolle bei Allokationsentscheidungen ein. Investoren sollten insbesondere regelbasierte Anlagestrategien im Blick haben. Immer dann, wenn diese im Schnitt extreme Positionen aufweisen, bietet sich möglicherweise ein konträres Verhalten an. Sie sollten zudem genau beobachten, wann sich der Trend zum passiven Investieren umkehrt und ETFs netto im Aggregat verkauft werden. Das dürfte für den Gesamtmarkt zwar noch Jahre dauern, doch kann dies bei Sektor-, Regionen- und Themen-ETFs durchaus schneller und vermehrt geschehen. Dann dürften vor allem Indextitel unter Druck geraten, die überproportional von solchen ETFs gehalten werden.

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