Im InterviewJames Ashley, GSAM

"Wir bewegen uns auf einen Wendepunkt zu"

Das Marktumfeld ist derzeit durch geopolitische Krisen und Rezessionsgefahren in Europa und den USA gekennzeichnet. Dennoch herrscht ein starker Optimismus an den Aktienmärkten vor. James Ashley, Leiter des International Strategic Advisory Teams von Goldman Sachs Asset Management, erläutert, wo aktuell Chancen für Investoren bestehen und wo Gefahren lauern.

"Wir bewegen uns auf einen Wendepunkt zu"

Im Interview: James Ashley

“Wir bewegen uns auf einen Wendepunkt zu”

Anlageexperte von Goldman Sachs Asset Management plädiert für einen langfristig höheren Anteil von Anleihen in den Portfolios – Aktien neutral bewertet

Das Marktumfeld ist derzeit durch geopolitische Krisen und Rezessionsgefahren in Europa und den USA gekennzeichnet. Dennoch herrscht ein starker Optimismus an den Aktienmärkten vor. James Ashley, Leiter des International Strategic Advisory Teams von Goldman Sachs Asset Management, erläutert, wo aktuell Chancen für Investoren bestehen und wo Gefahren lauern.

Herr Ashley, wie beurteilen Sie das aktuelle Umfeld der Märkte mit den geopolitischen Krisen, aber auch Rezessionsgefahren in weiten Teilen der Welt oder zumindest konjunktureller Abkühlung bei einer nach wie vor hartnäckig hohen Inflation?

Nun, ich glaube, dass wir uns auf einen Wendepunkt zubewegen, an dem sich bei einigen wichtigen Entwicklungen der vergangenen Jahre grundlegende Veränderungen ergeben. Die für die Märkte vermutlich wichtigsten Veränderungen ergeben sich in der Politik der Notenbanken. Derzeit erhöhen noch fast alle Zentralbanken die Zinsen, und es besteht auch sicherlich noch die Notwendigkeit für einige Zinsschritte. Aber es wird nun ein Punkt in der zweiten Jahreshälfte sichtbar, an dem die US-Notenbank Federal Reserve, die Europäische Zentralbank und wohl auch die Bank of England den Endpunkt ihrer Politik der Zinserhöhungen erreicht haben. Wenn wir dort sind, ist an den Märkten ein kollektives Gefühl der Erleichterung darüber zu erwarten, auch wenn es sicherlich noch eine ganze Reihe von Herausforderungen gibt. Sie erwähnten die Rezession. Europa befindet sich ohne Zweifel in einer technischen Rezession und wir gehen davon aus, dass die USA in eine kurze und leichte Rezession geraten werden. Außerdem gibt es in der Tat prominente geopolitische Risiken. Aber sobald wir eine gewisse Klarheit über den weiteren Kurs der Geldpolitik der Notenbanken erhalten, verschafft das den Märkten eine Atempause von der fast schon erbarmungslosen Verschärfung der Finanzierungskonditionen, mit denen die Märkte in den vergangenen 18 Monaten klarzukommen hatten. Es wird aber weiterhin eine erhöhte Volatilität an den Märkten geben und auch unterschiedliche Entwicklungen in den einzelnen Quartalen.

Was bedeutet das für Assetmanager?

Diese Kombination aus zunehmender Klarheit über die Geldpolitik, aber nach wie vor zahlreichen Herausforderungen bietet dann wieder gute Chancen für Assetmanager, die nun die Gelegenheit haben, den Kunden ihren Wert unter Beweis zu stellen. Es gibt also nicht mehr lediglich nur eine einzige mögliche „Risk-on“- oder „Risk-off“-Positionierung an den Märkten, sondern viele Kombinationen aus Chancen, Risiken und möglichen Ergebnissen – ein Umfeld, in dem sich aktives Management bewähren kann.

Wie beurteilen Sie in diesem Umfeld die Chancen für Aktieninvestments?

Grundsätzlich sind wir hinsichtlich Aktieninvestments bezogen auf unsere Gesamtallokation kurzfristig neutral eingestellt. In der etwas längerfristigen Sichtweise, also bezogen auf ungefähr zwölf Monate, plädieren wir für ein leichtes Untergewichten von Aktien. Diese Einstellung ist unserer Meinung nach konsistent mit dem geschilderten Marktumfeld, in dem durchaus die Gefahr von negativen Überraschungen besteht, beispielsweise hinsichtlich der Konjunkturentwicklung der großen Volkswirtschaften. Mit Blick auf die zu erwartende Gewinnentwicklung der Unternehmen sorgt dies für eine gewisse Vorsicht auf unserer Seite hinsichtlich der mittelfristigen Positionierung am Aktienmarkt.

Und wie betrachten Sie die Lage an den Aktienmärkten kurzfristig?

Kurzfristig gibt es unserer Meinung nach ausreichend Dynamik mit Blick auf die Risikobereitschaft und die Positionierung am Aktienmarkt, weil zu erwarten ist, dass die Notenbanken den Märkten bald die Perspektive des Kurswechsels signalisieren werden. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber einen Punkt klarstellen: Wir glauben noch nicht an einen kurzfristig erfolgenden tatsächlichen Kurswechsel der Zentralbanken, sondern lediglich, dass diese den Höhepunkt der Zinsentwicklung kommunizieren werden. Es gibt unserer Meinung nach einen wichtigen Unterschied zwischen diesen beiden Punkten.

Somit ist die Rally an den Aktienmärkten, die wir in den vergangenen Wochen beobachtet haben, also gerechtfertigt?

Die Rally der vergangenen Wochen an den Aktienmärkten ist wahrscheinlich gerechtfertigt – in der kurzfristigen Betrachtung.

Wo an den Aktienmärkten sehen Sie derzeit Chancen?

Im Bereich der europäischen Aktien beispielsweise gibt es sicherlich einige Branchen und Bereiche, in denen sich Gelegenheiten ergeben. In den Reihen der entwickelten Märkte sehen wir derzeit gute Chancen in Japan.

Warum?

Viele japanische Unternehmen sind auf den chinesischen Markt ausgerichtet. Unsere Bevorzugung japanischer Aktien hat aber auch noch andere Hintergründe. Japan hat ebenfalls seine Volkswirtschaft wiedereröffnet, denken wir beispielsweise an den Tourismus. Nicht übersehen werden sollte auch, dass die Bank of Japan die einzige große Notenbank in den entwickelten Ländern war, die nicht signifikant die Zinsen erhöht hat. Die Bank of Japan arbeitet nach wie vor mit Negativzinsen und wendet weiter eine Politik des Quantitative Easing an. Wir haben in Japan eine die Konjunktur alimentierende Geld- und Fiskalpolitik. Außerdem hat es über die vergangenen zehn Jahre strukturelle Reformen im Unternehmenssektor gegeben, die sich in den Gewinnen niederschlagen. Generell sehen die Bewertungen am japanischen Aktienmarkt nicht besonders herausfordernd aus, so dass wir in Japan einige Chancen erkennen können, und zwar in einer Vielzahl von Sektoren, nicht nur den exportorientierten Bereichen.

Wie würden Sie die Situation in den Aktienmärkten der Schwellenländer beschreiben?

Was die Emerging Markets betrifft, so bietet die Wiederöffnung der chinesischen Volkswirtschaft nach der Coronavirus-Pandemie interessante Gelegenheiten vor allem an den asiatischen Aktienmärkten. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es sich bei der Erholung in China um einen nicht linearen Prozess handelt. Das bedeutet, es wird auch immer wieder gewisse Rückschläge geben. Wir gehen davon aus, dass das Wirtschaftswachstum in China im laufenden Jahr im Durchschnitt bei ungefähr 5,5% liegen wird. Das wird den asiatischen Aktienmärkten zusätzlichen Rückenwind geben. Wenn wir hingegen die langfristige Perspektive der Aktienanlage in Asien betrachten, so rechnen wir damit, dass die nächste Wachstumswelle von Indien ausgehen wird. Dort sehen wir eine ansprechende wirtschaftliche Dynamik und eine vorteilhafte demografische Entwicklung – eine Kombination, die auch langfristig für vorteilhafte Perspektiven sorgen dürfte.

In China ist es ja auffällig, dass der Aufschwung vor allem vom Dienstleistungssektor getragen worden ist und weniger von der verarbeitenden Industrie.

Dieses Muster werden wir auch in den kommenden Monaten noch sehen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Dazu gehört die Komplexität der Lieferketten im Bereich der verarbeitenden Industrie, verglichen mit der Situation im Bereich der Dienstleistungen. China ist eine Volkswirtschaft, die sich für fast ein Jahr wegen der Lockdowns quasi im Winterschlaf befand. Wenn nun die Wiederöffnung stattfindet, wird der Dienstleistungssektor davon zunächst stärker profitieren, weil es in ihm einen geringeren Grad an Komplexität der Leistungserbringung gibt als in der verarbeitenden Industrie. In einer auf die Industrie ausgerichteten Volkswirtschaft wie China sind also einige Schwierigkeiten zu erwarten. Aber man muss einräumen, dass sich in China sowohl die verarbeitende Industrie als auch der Dienstleistungssektor schwächer entwickelt haben als gedacht. Grundsätzlich gehen wir übrigens davon aus, dass es diese Diskrepanz zwischen der Entwicklung der beiden Bereichen der chinesischen Wirtschaft noch für eine ganze Weile geben wird. Langfristig tragen dazu strukturelle Effekte bei. Denn mit der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas und dem Aufstieg der Mittelklasse mit höheren verfügbaren Einkommen wird der Dienstleistungsanteil der Gesamtwirtschaft zunehmen.

Wie würden Sie die Bedeutung der zahlreichen geopolitischen Konflikte für Investoren beschreiben? Welche Bedeutung haben Ukraine-Krieg und die Konfrontation von USA und China für Anleger?

Ich glaube grundsätzlich, dass die Aufmerksamkeit der Anleger für geopolitische Konflikte deutlich zugenommen hat und weiter wachsen wird. Schon der Ukraine-Krieg hat gezeigt, dass Risikoprämien bei den Anlageentscheidungen eine deutlich größere Rolle spielen als früher, und zwar in vielen Bereichen. So sehen wir beispielsweise eine gewisse Neuordnung der Lieferketten, die schon während der Coronavirus-Pandemie stattfand. Viele Unternehmen mussten feststellen, dass sie von einem einzigen wichtigen Zulieferer abhängig waren, was ihre Anfälligkeit für Krisen erhöht hat. Investoren haben also aus geopolitischen, aber auch aus unternehmenspolitischen Gründen die Risiken stärker im Blick. Davon könnten die Emerging Markets als Ganzes profitieren, weil Unternehmen und Anleger ihre Abhängigkeit von einem einzelnen Markt reduzieren wollen. Denken wir beispielsweise an Märkte wie Vietnam, Thailand und Mexiko, die von diesem Trend profitieren.

Spricht das für eine Top-down-Vorgehensweise bei Investment-Entscheidungen?

Erforderlich ist ohne Zweifel ein tiefes Verständnis der Abhängigkeiten zwischen Unternehmen und Märkten. Man kann das aber auch versuchen über eine Bottom-up-Analyse der einzelnen Unternehmen oder durch den Einsatz von Big-Data-Technologien oder den Einsatz künstlicher Intelligenz. Es ist nicht so, dass einzelne Ansätze richtig sind und die anderen falsch. Entscheidend ist ein tiefes Verständnis der zunehmend komplexer werdenden Lieferketten als eine Voraussetzung für erfolgreiche Investment-Strategien.

Wie beurteilen Sie gegenwärtig Chancen und Risiken im amerikanischen Aktienmarkt?

Am US-Aktienmarkt hat es eine recht beeindruckende Rally des S&P 500 gegeben, die sich aber sehr konzentriert hat auf vergleichsweise wenige Aktien. Wir alle wissen, wie groß der Anteil der sieben bedeutenden Technologiekonzerne an dieser Hausse ist. Diese Entwicklung erzeugt Risiken, aber auch Chancen. Man kann viel über Politik und Konjunktur reden, aber wenn die Marktteilnehmer die fundamentale Entwicklung eines dieser sieben Unternehmen falsch einschätzen, kann das signifikante Auswirkungen auf den Gesamtindex haben. Andererseits besteht die Chance in der Konzentration der Rally auf wenige Aktien darin, dass die relativ anspruchsvolle Bewertung des S&P 500 von diesen wenigen Konzernen angetrieben worden ist. Jenseits dieser Titel bieten sich also durchaus noch Chancen. Daher positionieren wir uns auch neutral für US-Aktien und plädieren nicht grundsätzlich dafür, diese unterzugewichten – trotz einer zu erwartenden, wenn auch flachen Rezession.

Und wie schätzen Sie die Lage am europäischen Aktienmarkt ein?

Am europäischen Aktienmarkt sind die Bewertungen attraktiver als in den USA. Man kann natürlich argumentieren, dass der Konjunkturausblick in Europa schwieriger ist als jenseits des Atlantiks. Europa befindet sich bereits in der Rezession, während eine solche in den USA lediglich absehbar ist. Die Fed ist auf ihrem Weg der Zinserhöhungen auch bereits deutlich weiter als die EZB. Die US-Notenbank hat nur noch einen bis zwei Zinsschritte vor sich, die EZB muss sich noch etwas aggressiver positionieren. Insofern kann man argumentieren, dass die niedrigeren Bewertungen in Europa auch die schwierigere makroökonomische Lage widerspiegeln. Insofern gibt es für uns momentan keine ausgeprägte Bevorzugung des europäischen oder des amerikanischen Aktienmarktes. Immerhin lässt sich aber festhalten, dass sich die Lage an beiden Märkten in den vergangenen Monaten verbessert hat – zu Jahresbeginn hätten wir noch beide Märkte untergewichtet.

Glauben Sie, dass der Ausgang der amerikanischen Präsidentschafts­wahlen einen großen Einfluss auf die Märkte haben wird?

Grundsätzlich sollte man sich davor hüten, aufgrund seiner eigenen politischen Meinung Investment-Entscheidungen zu treffen. Außerdem ist die Korrelation zwischen Wahlausgängen und der Entwicklung von Aktienmärkten eher niedrig, auch wenn das in einzelnen Fällen anders sein mag. Gleichwohl ist es noch viel zu früh, auf den Wahlausgang in den USA oder in Großbritannien im kommenden Jahr zu spekulieren.

Sie sind bisher wenig auf einzelne Sektoren eingegangen. Was ist der Grund dafür?

Nun, das liegt schlicht daran, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine starken Präferenzen für einzelne Sektoren haben. Wir sehen uns derzeit die Unternehmen hauptsächlich aus der Bottom-up-Perspektive an und suchen nach attraktiven Bewertungen. Was man vielleicht sagen kann, ist, dass wir gegenwärtig eher defensive Sektoren bevorzugen.

Auf welche Qualitäten achten Sie in der Analyse der Einzelunternehmen derzeit?

Wir suchen nach Unternehmen mit einem starken Cashflow, einem qualitativ hochwertigen Geschäftsmodell und vor allem auch langfristigen Wachstumsaussichten sowie ferner einem guten Management. Insgesamt bemühen wir uns aber um eine holistische Betrachtung der Unternehmen.

Wo sehen Sie Chancen an den Anleihemärkten?

Langfristig gesehen sollten Multi-Asset-Portfolios ihren Anleiheanteil erhöhen, und zwar auf Kosten des Aktienanteils. Der Grund liegt darin, dass wir langfristig von einem niedrigeren globalen Wirtschaftswachstum ausgehen, so dass die um das Risiko bereinigten Renditen, die sich mit Aktien erzielen lassen, geringer ausfallen. An den Anleihemärkten war die Neubewertung zwar sehr schmerzhaft für viele Investoren. Jetzt befinden wir uns aber an einem Punkt, an dem die Renditen wieder ein Niveau erreicht haben, das attraktiv ist. Vor ein bis zwei Jahren gab es kaum Potenzial, dass die Renditen sinken könnten. Nun hingegen sieht das mit Blick auf die absehbaren Kurswechsel der Notenbanken anders aus.

Und wie ist die kurzfristige Perspektive?

Kurzfristig gesehen sehen wir Chancen, im US-Bondmarkt beispielsweise seit dem Abklingen der Bankenkrise und vor den zu erwartenden Zinssenkungen der Fed. Wenn man sich ansieht, was derzeit an Zinserhöhungen eingepreist ist, so sehen wir gewisse Übertreibungen. Wenn diese abgebaut werden, ergeben sich Chancen für Investoren. Am europäischen Markt für Staatsanleihen wird hingegen sehr gut zugehört, was Christine Lagarde und der EZB-Rat kommunizieren. Es stehen noch einige Zinserhöhungen an, aber diese sind angemessen eingepreist. Das begrenzt einerseits das Risiko am europäischen Markt für Staatsanleihen, sorgt aber andererseits dafür, dass wir den Markt lediglich neutral einstufen. Bei Corporate Bonds wiederum bevorzugen wir derzeit Qualität, also Investment Grade gegenüber High Yield, und eine kurze Duration mit Blick auf die konjunkturellen Schwierigkeiten sowohl in den USA als auch in Europa. Wir sehen in Europa mehr Chancen als in den USA, da breitere Spreads unserer Meinung nach einen größeren Puffer bieten.

Und was halten Sie derzeit von Anleihen aus den Emerging Markets?

Gegenüber Staatsanleihen sind wir neutral eingestellt. Das gilt sowohl für Hartwährungsanleihen als auch für Lokalwährungsanleihen. Die Bewertungen dort sind unserer Meinung nach angemessen.

Das Interview führte Dieter Kuckelkorn.

Das Interview führte Dieter Kuckelkorn.

Langfristig gesehen sollten Multi-Asset-Portfolios ihren Anleiheanteil erhöhen, und zwar auf Kosten des Aktien­anteils.

Grundsätzlich sollte man sich davor hüten, aufgrund seiner eigenen politischen Meinung Investment-Entscheidungen zu treffen.