ANSICHTSSACHE

Big Bang für einen kontinentaleuropäischen Kapitalmarkt

Börsen-Zeitung, 10.7.2020 Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) als Aufseherin über Finanzintermediäre und Märkte in Deutschland steht heute inmitten heftiger Kritik aus dem In- und Ausland. Wie konnte es geschehen, dass sich...

Big Bang für einen kontinentaleuropäischen Kapitalmarkt

Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) als Aufseherin über Finanzintermediäre und Märkte in Deutschland steht heute inmitten heftiger Kritik aus dem In- und Ausland. Wie konnte es geschehen, dass sich Unregelmäßigkeiten im Rechnungswesen eines Unternehmens, das dem deutschen Leitindex Dax angehört, auch nach Monaten und Jahren nicht erklären lassen? Dass kritische Berichte über möglicherweise fehlerhafte Bilanzzahlen zu einer Anklage gegen die Journalisten führen, die diese Tatsachen ausgraben? Und wieso wird eine Firma, deren umlaufende negative Meldungen sich auch auf Nachfragen nicht durch Fakten widerlegen lassen, vor dem Biss der Leerverkäufer durch eine Einzelmaßnahme der Aufsicht in Schutz genommen? Fall Wirecard wirft Fragen aufAlle diese Fragen und weitere stellen sich nach den Ereignissen rund um den Fall Wirecard – eine Suche nach Antworten führt vor die Tür der deutschen Finanzaufsicht BaFin. Und sie geben Anlass zum Zweifel an Prinzipienfestigkeit, Unparteilichkeit und wohl auch an der fachlichen Satisfaktionsfähigkeit der Behörde. Es kann daher nicht verwundern, dass mittlerweile öffentlich und lautstark über eine Reform der Aufsicht gesprochen wird. Die Schlüsselfrage lautet: Wohin soll die Reise gehen? Wie kann auf die zutage getretenen Probleme und Fragen mit strukturellen Reformen wirkungsvoll reagiert werden?Nach jetzigem Stand ist Wirecard ein Paradebeispiel für einen kompliziert aufgesetzten Betrugsfall, den frühzeitig zu erkennen nicht einfach ist. Nicht nur die deutsche Aufsicht tut sich schwer, eklatante Betrugsfälle fehlerfrei und schnell zu erkennen, um daraufhin effektiv gegenzusteuern. Auch größere Fälle als Wirecard hat es immer wieder gegeben, vor allem in den Vereinigten Staaten, dem Land mit dem “Goldstandard” einer aktiven, durchgreifenden Marktaufsicht. Beispiele wie Enron, Worldcom und Bernie Madoffs Ponzi-Spiel sind heute gewissermaßen Schullektüre.Die Reformnotwendigkeit der BaFin folgt also nicht aus dem Vorliegen eines konkreten Betrugsfalls – sondern aus den grundlegenden organisatorischen Defiziten, die der Fall offenbart. Daraus ergeben sich drei Ansatzpunkte für Reformen: Erstens, der deutschen Aufsicht über Wertpapiermärkte, die ein Teil der BaFin ist, fehlt ein wirkungsvolles, in Unabhängigkeit verfolgtes Mandat. Gäbe es ein solches Mandat, das heißt eine Handlungsermächtigung, dann wäre dies ein klarer Auftrag an die Marktaufsicht, die Integrität des Wertpapiermarktes samt Zugang, Preistransparenz, Handelsprozess und Infrastruktur mit allen Mitteln zu bewahren. Ein derartiges Mandat beinhaltet natürlich die Auskunftserzwingung zu Bilanzangaben von allen notierten Unternehmen – egal ob sie eine Banklizenz haben und egal ob sie ein Technologieunternehmen sind oder nicht.Zweitens könnte eine in nationalen Grenzen aufgestellte Aufsicht im Konflikt- oder Krisenfall geneigt sein, Erleichterungen für die überwachten Unternehmen zu gewähren. Die Versuchung, so Arbeitsplätze zu sichern oder nationale Champions zu schaffen beziehungsweise zu erhalten, mag tagespolitisch plausibel und plakativ sein, ist aber illegitim. Denn ebendiese Versuchung zerstört langfristig das Vertrauen in eine neutrale Wettbewerbsordnung, die ihrerseits die Grundlage unserer Marktwirtschaft darstellt. Einer allzu großen Nähe zwischen Marktaufsicht und Beaufsichtigtem kann grundsätzlich begegnet werden, indem Aufsicht und Wirtschaftspolitik voneinander entkoppelt werden. In letzter Konsequenz bedeutet dies auch eine Loslösung von einem Fachministerium oder von der Zentralbank, wie es in vielen Ländern, auch in Deutschland, der Fall ist. Ähnlich wie die SECDrittens, die Anfälligkeit der Aufsicht für die Interessen- und Wettbewerbslage einzelner Unternehmen kann durch eine Supranationalisierung der Aufsicht, also durch eine Kompetenzübertragung auf eine europäische Behörde, behoben werden. Ähnlich wie der einheitliche europäische Aufsichtsmechanismus bei der Europäischen Zentralbank im Bankenwesen (Single Supervisory Mechanism, SSM) kann ein European Single Market Supervisor (ESMS) die entscheidende Weichenstellung auf dem Weg zu einem einheitlichen Kapitalmarkt jenseits von London darstellen.Ähnlich wie die US-Marktaufsicht SEC könnte ein ESMS mit starken Durchgriffsrechten ausgestattet sein, auch um ein “level playing field” unter den Marktteilnehmern zu gewährleisten. Ein ESMS wird in jedem Land, an jeder Börse, bei jeder alternativen Handelsplattform und bei den Wertpapiergeschäften der Banken (Internalisierung) dafür sorgen, dass nach einheitlichen Regeln gespielt wird. Das ist die Voraussetzung für eine europaweite Marktkultur und für ein internationales Vertrauen in die Spielregeln.Dieses Vertrauen wiederum werden wir dringend brauchen, wenn die enormen Schuldensummen, die Europas Staaten und Unternehmen derzeit auftürmen, globale Investoren finden wollen. Daher verwundert die immer lautere Forderung von vielen Seiten nach einem “Big Bang” auf dem europäischen Kontinent nicht – hierbei soll es sich um eine grundlegende Änderung der Aufsicht handeln.Existierende nationale Marktaufsichten können durchaus eine wichtige Rolle spielen – aber eben als nationale Zweigstellen, integriert in die gesamteuropäische Aufsicht. Dabei möge eine wesentliche Lehre der vergangenen Jahre beherzigt werden: Die auf nationaler Ebene tätigen Mitarbeiter der Marktaufsicht müssen rechtlich und disziplinarisch einheitlich der europäischen Zentrale zugeordnet und unterstellt sein – so dass eine Letztverantwortlichkeit gegenüber nationalen Finanzministerien oder Zentralbanken endet. Prof. Dr. Jan Krahnen ist Direktor des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung SAFE. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft. Von Jan KrahnenDie Anfälligkeit der Aufsicht für die Interessenlage einzelner Unternehmen kann durch eine Supranationalisierung der Aufsicht behoben werden.——