„Das ist kein gutes Signal“
Von Gerhard Bläske, Mailand
Trotz der sich verschärfenden Corona-Pandemie sowie der wachsenden Inflation ist der führende italienische Ökonom Carlo Cottarelli optimistisch, dass Italien auch 2022 stark wächst. Im Gespräch mit der Börsen-Zeitung kritisiert er jedoch zu großzügige Subventionen und Maßnahmen im Haushalt für 2022.
Sorgen bereitet ihm auch ein möglicher Wechsel von Premierminister Mario Draghi ins Amt des Präsidenten: „2022 müssen wir die Reformen vorantreiben, um sie umsetzen zu können. Es wäre deshalb besser, Draghi bliebe Premierminister. Sollte er das Amt aufgeben, wäre der Reformkurs gefährdet. Falls Draghi in den Präsidentenpalast wechseln sollte, erwarte ich Neuwahlen. Man verlöre Zeit in einem Umfeld, in dem etwa hundert Bedingungen des europäischen Wiederaufbauprogramms erfüllt werden müssen, von denen viele der Zustimmung des Parlaments bedürfen.“
Cottarelli, einst Sparkommissar der Regierung unter Mario Monti, ehemaliger IWF-Ökonom, Professor der Katholischen Universität in Mailand und 2018 kurzzeitig mit der Regierungsbildung beauftragt, beurteilt Draghis Politik positiv – mit Einschränkungen. „Es war nicht möglich, in der aktuellen Lage mehr Reformen durchzusetzen.“ Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) werde nach voraussichtlich +6,2% in diesem Jahr 2022 um 4,5% wachsen, „vorausgesetzt, es gibt keine weiteren coronabedingten Schließungen“. Den neuen Haushalt beurteilt er kritisch: „Ich wäre etwas vorsichtiger gewesen. Ich hätte die Subventionen und andere Maßnahmen auf die konzentriert, die sie brauchen. Man muss nicht die Hilfen für alle erhöhen, um Kaufkraftverluste zu kompensieren. Der Super-Bonus für ökologische Sanierungen zum Beispiel ist zu großzügig. Das gilt auch für andere Boni und Hilfen zur Kompensation der höheren Energiepreise, die auf Bedürftige begrenzt sein sollten. Das ist kein gutes Signal.“
Problem Steuerhinterziehung
Cottarelli, der auch einem Team linksliberaler Politiker und Ökonomen vorsteht, das regelmäßig konkrete Vorschläge zur Gesundung des Landes vorlegt, beklagt, dass „zu viele Menschen in Italien ihre Steuern nicht zahlen. Steuerhinterziehung ist sehr verbreitet bei uns“, sagt er. Das jährliche Volumen wird auf knapp 100 Mrd. Euro geschätzt. Cottarelli kritisiert, dass das italienische Steuersystem vor allem untere und mittlere Einkommensgruppen belastet, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gering ist und die sozialen Ungleichheiten zu groß seien.
Trotz der steigenden Teuerungsrate ist er vorerst für eine Beibehaltung der derzeitigen Geldpolitik durch die Europäische Zentralbank (EZB): „Die Preisentwicklung in den nächsten zwei bis drei Monaten wird für die weitere Entwicklung der Geldpolitik in Europa entscheidend sein. Wir sind noch nicht in der Situation der USA.“ Cottarelli geht davon aus, dass die EZB 2022 italienische Staatsanleihen im Umfang von 65 Mrd. Euro aufkaufen wird.
Der Ökonom plädiert dafür, die Steuerkapazität der Europäischen Union zu verbessern und „signifikant zu erhöhen. Wir bräuchten einen gemeinsamen Haushalt von mindestens 3 bis 4% des Bruttoinlandsprodukts. Wir sollten damit Infrastrukturprojekte oder sogar eine gemeinsame europäische Arbeitslosenversicherung finanzieren.“ Cottarelli fordert einen rascheren Abbau der hohen Verschuldung von mehr als 153% des BIP: „Wir müssen das Wachstum, das wir in den kommenden Jahren hoffentlich haben werden, nutzen, um die Verschuldung schneller abzubauen, als wir das in der Vergangenheit getan haben.“