Im InterviewJürgen Michels

„Deutschlands Probleme sind vielschichtig“

Die deutsche Wirtschaft steckt in einer anhaltenden Schwächephase. Die Ampel-Koalition will helfen, ist aber in wichtigen Fragen zerstritten. Im Interview ordnet Jürgen Michels, Chefvolkswirt der BayernLB, die Lage ein.

„Deutschlands Probleme sind vielschichtig“

Herr Michels, Deutschland wird vielfach wieder bezeichnet als „kranker Mann“ Europas oder sogar der Welt. Wie schlimm ist es wirklich?

Die deutsche Wirtschaft ist in der Tat in einer schwierigen Lage. Anders als Anfang der 2000er Jahre, als die Diagnose „kranker Mann“ zuletzt gestellt wurde, sind die Ursachen der Schwäche dieses Mal jedoch vielschichtiger. Damals litt Deutschland an einer chronischen Schwäche, nämlich dem Verlust der internationalen preislichen Wettbewerbsfähigkeit, die sich auch in hoher Arbeitslosigkeit widergespiegelte. Dieses Mal zeigen sich zwar auch klare Symptome von chronischen Problemen, die Wirtschaft leidet aber auch an den Folgen von akuten „Unfällen“, nämlich der Pandemie und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Diese dämpfen weiter über die inflationsbedingten Kaufkraftverluste und die deutliche Straffung der Geldpolitik die Wirtschaft. Dadurch wird die unterliegende Wirtschaftsschwäche überzeichnet.

Laut Prognose des IWF ist Deutschland das einzige führende Industrieland (G7), dessen Wirtschaft 2023 schrumpfen wird. Warum hängen uns alle ab?

Deutschland hat innerhalb der G7 eine der niedrigsten Potenzialwachstumsraten, nur Italien ist noch schwächer. Hier machen sich also die strukturellen Faktoren bemerkbar. Deutschland ist zudem stärker als andere Länder abhängig von russischem Gas gewesen, und China spielt auf der Exportseite eine deutlich größere Rolle. Die Exporte nach China stottern leider seit Monaten, ursprünglich aufgrund der Lockdowns in China. Aber auch jetzt belebt sich das China-Geschäft nicht, aufgrund der schwachen Erholung in China und wegen eines veränderten Nachfrageverhaltens, was besonders die zyklischen Automobil- und Investitionsgüterindustrien zu spüren bekommen.

Wo sehen Sie aktuell die größten Baustellen der deutschen Wirtschaft?

Ähnlich wie andere Industrienationen muss Deutschland das Ausscheiden der Babyboomer aus dem Erwerbsleben managen. Zusätzlich ist Deutschland mit seiner exportorientierten Industrie stark betroffen von geopolitischen Veränderungen. Hier gilt es, die Abhängigkeiten von einzelnen Ländern, vor allem China, zu reduzieren. Zudem muss Deutschland die Transformation hin zu einer CO2-armen und digitalisierten Wirtschaft hinbekommen. Hier gibt es zwar ambitionierte Ziele, die Umsetzung bleibt aber bisher unbefriedigend. Eine große Rolle spielt dabei das hohe Ausmaß der Bürokratie.

Und was sind aus Ihrer Sicht die größten Hoffnungsschimmer?

Deutschland verfügt über innovative Unternehmen und ist Teil eines großen und politisch stabilen Wirtschaftsraums, der EU und der Eurozone. Zudem verfügen deutsche Haushalte und Unternehmen über große Vermögen, die ertragsbringend angelegt werden wollen. Hier bietet sich die Chance, in deutsche sowie europäische grüne und digitale Infrastruktur zu investieren und so um politische Risiken adjustierte Renditen zu erwirtschaften, die im internationalen Vergleich attraktiv sind. Wir haben also viel Potenzial, die Binneninvestitionen auszuweiten.

Die Bundesregierung will mit einem Wachstumschancengesetz helfen. Wie beurteilen Sie das Programm?

Mit dem Versuch, Investitionsanreize zu erhöhen, zum Beispiel durch Sofortabschreibungen oder Investitionsprämien für Klimainvestitionen, geht das Programm in die richtige Richtung.  Doch so sinnvoll solche Anreize sind, es sollte verhindert werden, dass dadurch die Bürokratie vergrößert wird. Vielleicht wäre es effektiver, durch verbesserte breitere Abschreibungsmöglichkeiten, die dann auch für die Verbesserung der digitalen Infrastruktur genutzt werden könnten, die Investitionsanreize anzukurbeln. Zudem wäre es an der Zeit, die international verhältnismäßig hohe Unternehmenssteuerbelastung zu adressieren. Auch das Thema Bürokratieabbau kommt zu kurz.

Es werden auch wieder Rufe nach einem breiten, womöglich defizitfinanzierten Konjunkturprogramm lauter. Ist das nötig oder wäre das auch mit Blick auf die hohe Inflation kontraproduktiv?

Wie schon erwähnt ist ein Teil der jetzigen wirtschaftlichen Schwäche durch die Straffung der Geldpolitik hervorgerufen. Die massiven Zinserhöhungen haben das Ziel, über restriktivere Finanzierungskonditionen die Nachfrage zu schwächen, um dadurch die Inflation zu bändigen. Dieser Nachfrageschwächung durch konsumorientierte Konjunkturprogramme entgegenzuwirken wäre kontraproduktiv. Als Konsequenz würde der Preisdruck hochbleiben und die EZB mit einer stärkeren Straffung der Geldpolitik reagieren, die ihrerseits die Konjunktur erneut belasten würde und zunehmend gefährlich für die Finanzstabilität würde. Der Preiseffekt von Investitionsanreizen wäre aktuell nach dem Ende der Lieferkettenprobleme dagegen wohl deutlich geringer.

In der Ampel-Koalition gibt es Streit über das Festhalten an der Schuldenbremse in der Krise. Was denken Sie?

Da die jetzige wirtschaftliche Schwäche auch auf strukturelle Faktoren zurückzuführen ist, werden die Kriterien für das weitere Aussetzen der Regel wohl nicht erfüllt. Daher sollte auch im Hinblick auf die Vorbildfunktion im europäischen Kontext von einer leichtfertigen Aussetzung der Schuldenbremse abgesehen werden. Eine Wiederholung des Jahres 2002, als Frankreich und Deutschland als eine der Ersten gegen die Maastricht-Regeln verstoßen haben, sollte vermieden werden. Dennoch wäre es sinnvoll, die Schuldenbremse hinsichtlich der Definition von Investitionen zu adjustieren.

Welche weiteren wirtschaftspolitischen Prioritäten sehen Sie für die Ampel, auch um den Wirtschaftsstandort zu stärken?

Ganz oben auf der Agenda sollte der Abbau von Bürokratie stehen. Zudem sollte nach den deutlichen Ausweitungen der konsumorientierten staatlichen Ausgaben eine Neuausrichtung in Richtung Investitionen stattfinden. Um mittelfristig erfolgreich zu sein, braucht Deutschland einen fortschrittlichen Kapitalstock und gut ausgebildete Erwerbspersonen. Um das zu gewährleisten, braucht es auch ein international attraktives Steuersystem, besonders für die Unternehmen.

Eine weitere große Sorge gilt aktuell einer möglichen Deindustrialisierung Deutschlands. Ist das eine realistische Gefahr und wie ließe sich gegebenenfalls gegensteuern?

Die Industrie ist ein Grundpfeiler der deutschen Wirtschaft und braucht verlässliche Rahmenbedingungen. Mit dem Ziel der Klimaneutralität wird Strom eine immer größere Rolle spielen. Wichtig wäre es daher, möglichst viel Planungssicherheit bei den Strompreisen zu geben. Anstatt einen Industriestrompreis einzuführen, sollte aber versucht werden, den Strompreismechanismus zu reformieren und dafür zu sorgen, dass steigende CO2-Preise sich nicht unmittelbar in steigenden Strompreisen auswirken. Ein Wegfall einiger Industriezweige dürfte zwar nicht verhindert werden, aber die Gefahr von Kollateralschäden dürfte deutlich sinken.

Im Interview: Jürgen Michels

„Deutschlands Probleme sind vielschichtig“

Der Chefvolkswirt der BayernLB über die Schwäche der Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik der Ampel

Die Fragen stellte Mark Schrörs.

Die deutsche Wirtschaft steckt in einer anhaltenden Schwächephase. Die Ampel-Koalition will helfen, ist aber in wichtigen Fragen zerstritten. Im Interview ordnet Jürgen Michels, Chefvolkswirt der BayernLB, die Lage der deutschen Wirtschaft ein und spricht über die nötigen Prioritäten der Bundesregierung.