Impfpflicht

Druck auf Ungeimpfte in Europa steigt

Europa diskutiert über eine Impfpflicht – in Frankreich und Italien ist sie bereits beschlossene Sache, die Briten ziehen nach. Deutschland wird vor der Wahl keine bundesweit einheitlichen Regeln mehr beschließen. Und auch in Europa gibt es noch Ausnahmen.

Druck auf Ungeimpfte in Europa steigt

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Kommt eine Impfpflicht oder nicht? Kaum ein Thema wird derzeit so heiß diskutiert. In einigen Ländern ist sie beschlossen, andere suchen noch nach dem besten Weg. Ein Überblick über den aktuellen Stand in den größten Ländern Europas.

Italien führt als erstes europäisches Land eine weitgehende Impfpflicht ein. Das Kabinett verabschiedete eine Regelung, die vorsieht, dass die rund 23 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der Privatwirtschaft ab 15. Oktober einen Nachweis über mindestens eine Impfung oder die Genesung nachweisen müssen (2G-Regel). Ar­beitgeber sind zu Kontrollen verpflichtet. Bei Verstößen drohen Ar­beitgebern Strafen bis zu 400000 Euro. Beschäftigte müssen zwischen 600 und 1500 Euro zahlen und erhalten keinen Lohn mehr. Die Regelung gilt zunächst bis 31. Dezember. Auch Hauspersonal, Praktikanten und häusliche Pflegekräfte sind betroffen. Alternativ kann ein negatives Testergebnis vorgelegt werden, das nicht älter als 72 Stunden sein darf. Die Tests sollen für Erwachsene 15 Euro kosten. Mit der Testpflicht will die Regierung die Impfquote von derzeit etwa 75% bis Ende Oktober auf 81,7% steigern. Die Impfpflicht gilt auch für Fernzüge, Busse, Fähren und Flugzeuge. Bereits seit Mai besteht eine solche Impfpflicht im Gesundheitswesen. Kürzlich wurde sie auf Mitarbeiter von Seniorenheimen, Schul- und Universitätspersonal sowie Studenten ausgeweitet.

In Deutschland hält die Bundesregierung bislang an ihrem Kurs fest, Genesenen, Geimpften und negativ Getesteten (3G) den gleichen Zugang zum öffentlichen Leben zu ermöglichen. Immer mehr Bundesländer und Kommunen führen allerdings 2G-Regeln oder Optionsmodelle für bestimmte Bereiche ein. Bremen etwa kündigte einen Mehrstufenplan an und erklärte, dass man sich für die Gastronomie, Clubs und Konzerte ein Abweichen von der 3G-Regel vorstellen könne. Zuvor hatte der Berliner Senat die 2G-Regel für einige Bereiche des öffentlichen Lebens beschlossen. Die Chefs der Staats- und Senatskanzleien wollten laut „Business Insider“ auf ihrer Jahrestagung am Freitag auch über den Umgang mit Ungeimpften in den Ländern beraten. So kurz vor der Bundestagswahl sollten aber keine Beschlüsse getroffen werden. Der Druck auf Ungeimpfte wird in jedem Fall steigen. Ab Mitte Oktober werden die kostenfreien Schnelltests in Testzentren abgeschafft, womit die Teilnahme am öffentlichen Leben unter der 3G-Regel für Ungeimpfte aufwendiger wird. Auch Lohnfortzahlungen für Ungeimpfte im Falle einer Quarantäne, die bisher der Staat übernimmt, stehen zur Disposition. Einige Länder haben diese Zahlungen bereits gestoppt. Am Mittwoch beraten die Gesundheitsminister der Länder über eine einheitliche Regelung. Bundesweite 2G-Regeln dürften spätestens nach der Bundestagswahl wieder Thema werden.

In Frankreich ist am 15. September eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen in Kraft getreten. Betroffen sind insgesamt 2,7 Millionen Personen, die im Gesundheitswesen, als Pfleger in Altenheimen oder Betreuer von älteren Personen, als Haushaltshilfen, Mitarbeiter von Vereinen wie dem Roten Kreuz oder im Krankentransport arbeiten. Die Impfpflicht gilt auch für Verwaltungsmitarbeiter von Pflegeeinrichtungen, für Medizinstudenten, Feuerwehrleute, Angehörige des Militärs und der Gendarmerie. Denjenigen, die nicht mindestens eine Impfung, die Genesung oder eine medizinische Kontraindikation zur Impfung nachweisen können, droht die Aussetzung ihrer Arbeitsverträge ohne Gehaltsbezüge. Ab Mitte Oktober muss die vollständige Impfung nachgewiesen werden. Laut Gesundheitsminister Olivier Véran haben mehrere Dutzend Mitarbeiter des Gesundheitswesens gekündigt, weil sie sich nicht impfen lassen wollen. Rund 3000 wurden vorübergehend vom Dienst suspendiert. Mehr als 88% der in französischen Krankenhäusern Beschäftigten sind inzwischen vollständig geimpft. Bei freien Ärzten beträgt die Quote 96%. 70% der Gesamtbevölkerung Frankreichs sind vollständig geimpft, die Übersee-Départements nicht mitgerechnet.

Die Debatte über eine Impfpflicht stellt sich in Spanien derzeit nicht. Das liegt vor allem am guten Impffortschritt. 75% der Bevölkerung sind vollständig geschützt, eine Quote, die nur wenige Länder vorweisen können. Experten sehen dafür verschiedene Gründe. Zum einen ist da die Erinnerung an die Wucht, mit der die erste Welle der Pandemie das Land traf und einen der härtesten Lockdowns erforderte. Zum anderen leben viele Menschen in Familienhaushalten zusammen, wo mehr Rücksicht auf die Angehörigen genommen wird als in Nordeuropa. Impfverweigerer gibt es in Spanien wenige und auch kaum Demonstrationen von Coronagegnern. Laut einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts CIS sind 47,7% der Spanier für eine allgemeine Impfpflicht, nur 25,4% dagegen. 81,5% fordern sogar eine Impfpflicht für Menschen in der Krankenversorgung, Pflege und Berufen mit direktem Kundenkontakt. In mehreren Regionen gibt es entsprechende Überlegungen, doch die nationale Regierung zögert mit einer landesweiten Vorgabe. Ein entscheidender Faktor sind die spanischen Gerichte. So wurden etwa die Pläne mehrerer Regionalregierungen zur Einführung der 2G-Regel für Veranstaltungen, Sporteinrichtungen oder Bars als unverhältnismäßig gekippt.

In Großbritannien müssen ab dem 11. November alle Mitarbeiter von Pflegeeinrichtungen, die der Kontrolle durch die Care Quality Commission unterliegen, nachweisen, dass sie zwei Impfdosen erhalten haben. Sonst dürfen sie die Einrichtungen nicht mehr betreten. Ausnahmen gibt es für Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht ge­impft werden können. Seit dem 9. September haben Beratungen über eine Impfpflicht für Mitarbeiter des öffentlichen Gesundheitswesens NHS begonnen, die im Kampf gegen die Pandemie an vorderster Front stehen. Daneben gibt es Arbeitgeber wie die Handwerker-Plattform Pimlico Plumbers, die eine „No Jab, No Job“-Politik verfolgen. Manche Firmen bieten an, die Impfkosten für die Belegschaft zu übernehmen, sollte der Impfstoff einmal privat verfügbar sein. Wie die jüngsten Daten des britischen Statistikamts ONS belegen, haben sich die Impfstoffe als sehr effizient erwiesen. Von den 51000 Menschen, die zwischen Januar und Juli in England mit Covid-19 gestorben sind, hatten lediglich 256 den vollen Impfschutz. „Impfdurchbrüche“ gab es bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem oder schweren Vorerkrankungen. Das Durchschnittsalter der Betroffenen lag bei 84 Jahren. Bislang haben in Großbritannien 81% der über 16-Jährigen zwei Impfdosen erhalten. Eine Dosis haben be­reits 89% bekommen. Wer doppelt geimpft ist, muss nach der Rückkehr aus Ländern, die nicht auf der roten Liste der Regierung stehen, schon bald keine teuren PCR-Tests mehr machen. Bislang wurden zwei gefordert, was in Touristik und in der Luftfahrtbranche auf wenig Begeisterung stieß. Der Besuch von Konzerten und anderen Veranstaltungen ist bereits mit einem negativen Lateral-Flow-Test möglich.

Belgien hat seine Coronamaßnahmen in den vergangenen Wochen schrittweise immer weiter gelockert. Landesweit sind 84% der Erwachsenen vollständig geimpft. Unter Nutzung eines „Covid-Safe-Tickets“ – eine Art nationaler 3G-Nachweis – spielten zuletzt auch bei Innenveranstaltungen Maskenpflicht und Ab­standsregeln kaum noch eine Rolle. Am Freitag beriet der sogenannte Konzertierungsausschuss, der für die Coronamaßnahmen zuständig ist, sogar schon über eine allgemeine Aufhebung der Maskenpflicht. Diese wird es jetzt zunächst weitgehend aber nur in Flandern geben, weil hier die höchsten Impfquoten verzeichnet werden. Ein Problemfall ist dagegen die Region Brüssel. Der Ministerpräsident der Region, Rudi Vervoort, brachte am Freitag erstmals eine allgemeine Impfpflicht ins Spiel. Alle Mittel und Anreize, Ungeimpfte zu überzeugen, seien ausgeschöpft, sagte er in einem Interview. Irgendwann müsse man das Pferd zwingen zu trinken.

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