SPRUNG IN GELDPOLITISCHES NEULAND

EZB schnürt Maßnahmenpaket gegen die Deflation

Finanzspritzen für Banken speziell für die Kreditvergabe an Unternehmen - Konventionelles Instrumentarium ausgeschöpft - Zweifel an Wirkungsfähigkeit

EZB schnürt Maßnahmenpaket gegen die Deflation

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat erstmals in ihrer Geschichte einen Zinssatz unter die Nulllinie gedrückt und ist mit einer konditionierten Finanzspritze für Banken weit in unbekanntes geldpolitisches Terrain vorgestoßen. Die Risiken für die Glaubwürdigkeit der Notenbank sind gewaltig. Viele Banker und Ökonomen bezweifeln zudem, dass die Gefahr einer Deflation und die herrschende Kreditklemme diesen Schritt rechtfertigen.Von Stephan Lorz, FrankfurtDer Leitzins mit 0,15 % auf einem Rekordtief, der Einlagenzins mit – 0,10 % erstmals im negativen Bereich, dazu ein neues lukratives Refinanzierungspaket für Banken, das allerdings an ihre Kreditvergabe gebunden ist, sowie ein Aussetzen der Sterilisierung früherer Anleihenkäufe und die Vorbereitung für den Ankauf von Kreditverbriefungen (ABS) – das Maßnahmenpaket der Europäischen Zentralbank hat angesichts seines Volumens und seines unkonventionellen Zuschnitts viele Marktteilnehmer überrascht. Zwar wurden einzelne Instrumente wegen der anhaltend niedrigen Inflation in der Eurozone und der schleppenden Konjunkturerholung bereits länger debattiert. Dass die Notenbank aber tatsächlich auf die ganze Palette zugreift und die konventionellen Maßnahmen nahezu vollkommen ausschöpft, das hatten – ausweislich der Reaktionen an der Börse – offenbar nur wenige auf der Rechnung. Gleichwohl zeigte sich im weiteren Verlauf, dass die Unsicherheit wieder zugenommen hat hinsichtlich der Wirkungsmacht der neuen Maßnahmen. Was die Leitzinssenkung angeht, geht kaum ein Beobachter davon aus, dass sie irgendeinen Effekt mit sich bringen wird. Es scheint eine symbolische Geste zu sein, dass das Augenmerk der Notenbank nun auf anderen Maßnahmen liegt wie einer weiteren Liquiditätszufuhr für die Banken durch die Beendigung der Sterilisierung des alten SMP-Programms. Auch die Ankündigung, den Ankauf von europäischen Kreditverbriefungen (ABS) vorzubereiten, sofern diese “einfach, transparent und mit realen Krediten unterlegt” sind, signalisiert den Marktteilnehmern, dass die EZB nun bereit ist, ganz von den traditionellen Wegen abzuschweifen bis hin zu Methoden des direkten Markteingriffs via Quantitative Easing (QE), was vor allem angelsächsische Beobachter von der EZB schon lange fordern. “Sind wir am Ende unserer Möglichkeiten angelangt? Die Antwort ist nein”, lockte denn auch Draghi. Breit angelegte Anleihekäufe gehören zu möglichen Optionen für die EZB. Kann also gut sein, dass diese Absichtsbekundung später zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird, weil die Märkte den Druck schon weiter erhöhen werden, damit die EZB aus ihrer Sicht endlich handelt. Den Kern der EZB-Maßnahmen stellt die “Targeted Longer-Term Refinancing Operation” (TLTRO) dar, eine Refinanzierungsfazilität für Banken. Sie wird offenbar in zwei Tranchen angeboten zum September und Dezember des laufenden Jahres. Die Laufzeit beträgt jeweils vier Jahre. Banken erhalten Zugang zu diesem neuen Instrument gemäß dem Umfang, in dem sie Kredit an den nichtfinanziellen privaten Sektor geben. “Die technischen Details sind etwas kompliziert, aber die bedingte Bankenrefinanzierung dürfte der effektivste Hebel der EZB sein, um die Kreditvergabe an die Realwirtschaft insbesondere in der Peripherie anzukurbeln”, urteilt Holger Fahrinkrug, Chefvolkswirt bei Meriten Investment Management. Die Konditionen sind insofern attraktiv, als die Kosten aus dem Leitzins zuzüglich nur 0,1 Prozentpunkte betragen. Zudem werden die TLTRO, weil sie unabhängig vom Bestand an EZB-Sicherheiten sind, den Refinanzierungsspielraum von Banken zusätzlich erweitern. Allerdings ist noch unklar, wie die Kontrolle der Kreditbedingungen erfolgt und mit welchem Aufwand das verbunden ist. Das könnte Banken abschrecken, weshalb nach Meinung von Ökonomen schwer abzuschätzen ist, wie stark das Programm angenommen wird und ob es womöglich nur Mitnahmeeffekte auslöst. Zumal die Banken große Teile der bisherigen LTRO-Programme bereits zurückgezahlt haben, der Liquiditätsbedarf also offenbar nicht so groß ist. Kritiker des Maßnahmenbündels der EZB verweisen auf die geringe Wirksamkeit aufgrund des geringen Zinsschritts, auf mögliche negative Effekte des Negativzinses, auf die eingeschränkte Durchschlagskraft des konditionierten Refinanzierungsprogramms, weil die Kreditvergabe wohl auch wegen fehlender Nachfrage nicht wächst, und schließlich auf die Gefahr neuer Preisblasen in einigen Finanzmärkten. Zudem, so wird argumentiert, nehme die Notenbank der Politik die Reformlast ab. Jüngste politische Entwicklungen zeigten doch bereits, dass viele Regierungen die Sparpolitik lockern wollten und stärker auf die helfende Hand der Notenbank bauten, etwa auch bei der Staatsfinanzierung. Letztere ist bei der Refinanzierungsfazilität zwar explizit ausgeschlossen, auch sollen keine Finanzspritzen an Banken für Immobilienkredite vergeben werden. Doch die Entlastung bei den Unternehmenskrediten gibt den Instituten neuen Raum, bei Immobilien und bei der Staatsfinanzierung umso beherzter zuzugreifen.