Coronakrise

Frankreichs riskante Wette

Noch versucht die Regierung von Emmanuel Macron, eine erneute Ausgangssperre zu vermeiden. Doch der befürchtete Anstieg der Infektionszahlen könnte ihr bald keine andere Wahl lassen.

Frankreichs riskante Wette

Von Gesche Wüpper, Paris

Frankreich sorgte gerade für gleich zwei Überraschungen. Zum einen ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone im letzten Jahr mit −8,3% nicht ganz so stark eingebrochen wie befürchtet. Zum anderen hat die Regierung entgegen den Erwartungen keine dritte Ausgangssperre angekündigt – bisher. Grund dafür ist jedoch keineswegs die berühmte französische Ausnahme als vielmehr das politische Kalkül von Präsident Emmanuel Macron.

Angesichts der heftigen Proteste in den Niederlanden gegen Corona-Beschränkungen und der sinkenden Akzeptanz schärferer Maßnahmen durch die Bevölkerung spielt er auf Zeit. Macron will Kritik vorbeugen, nicht alles dafür getan zu haben, eine dritte Ausgangssperre zu verhindern.

Am Montagmorgen bekräftigte sein Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, im Radiosender RTL, dass ein neuerlicher Lockdown das letzte Mittel sei.

Furcht vor den Kosten

Der Grund sind die hohen Kosten eines neuerlichen Stillstands. Le Maire warnte bereits, dass eine neue Ausgangssperre das Wachstumsziel von 6% für dieses Jahr gefährden würde und zu einem Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität um 10% bis 18% im Vergleich zum Vorkrisenniveau führen könnte.

Laut Ökonomen könnte eine einmonatige Ausgangssperre wie die im November das Bruttoinlandsprodukt (BIP) aufs Jahr gerechnet einen Punkt kosten, etwas mehr als 20 Mrd. Euro. Die auf das ganze Land ausgeweitete nächtliche Sperrstunde dürfte nach Ansicht von Allianz-Chefökonom Ludovic Subran ohnehin dafür sorgen, dass es im ersten Quartal eine Rezession gibt. Derzeit kosten die staatlichen Hilfen Le Maire zufolge pro Monat 6 bis 7 Mrd. Euro, zusammen mit entgangenen Steuereinnahmen erhöht sich die Rechnung auf mehr als 10 Mrd. Euro. Eine strenge Ausgangssperre koste 15 Mrd. Euro monatlich.

In dem von der zweiten Ausgangssperre geprägten Schlussquartal 2020 ist die Wirtschaft nach Angaben des Statistikamtes Insee um 1,3% geschrumpft, deutlich weniger als im zweiten Quartal, als die erste strenge Ausgangssperre das BIP im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 18,5% einbrechen ließ. Der Konsum der Haushalte hat 2020 um 7,1% nachgegeben, die Produktion 8,6%. Die Investitionen sind um 9,8% zurückgegangen, die Exporte um 16,7%, die Importe um 11,6%. Die Staatsverschuldung ist von 98% auf fast 120% des BIP gestiegen.

Lockdown light

Mit seiner Strategie, auf Zeit zu spielen, geht Macron eine riskante Wette ein. Die Gegenmittel, die Premierminister Jean Castex Freitagabend verkündete, werden nach Ansicht von Virologen nicht ausreichen, einen exponentiellen Anstieg der durch besonders ansteckende Virusmutationen verursachten Infektionen zu verhindern. Einkaufszentren mit mehr als 20000 Quadratmetern Fläche müssen schließen, Lebensmittelläden sind ausgenommen. In Frankreich gibt es rund 400 solche Zentren. Die Ein- oder Ausreise für Länder außerhalb der Europäischen Union ist nur noch bei triftigen Gründen erlaubt. Das Arbeiten im Homeoffice soll verstärkt werden.

Diese eher kosmetischen Maßnahmen werden nach Ansicht von Epidemiologen nicht ausreichen, um den Anstieg der Infektionszahlen zu stoppen. Laut Hochrechnungen wird sich die Pandemie in Frankreich bis Mitte März so stark ausbreiten, dass spätestens dann eine strenge Ausgangssperre wie im letzten Frühjahr notwendig sein wird.

Infektionszahlen steigen

Bereits in den letzten Wochen haben die ohnehin hohen Infektionszahlen langsam, aber stetig zugelegt. Dafür gibt es mehrere Gründe. So war die zweite Ausgangssperre Ende Oktober bis Mitte Dezember weniger streng als die erste im Frühling 2020, da Schulen und Kindergärten weiter geöffnet blieben und viele Arbeitnehmer trotz Appellen, verstärkt zu Hause zu arbeiten, weiter in die Büros gegangen sind. Eigentlich wollte Präsident Macron erreichen, dass die Zahl der Neuinfektionen auf 5000 pro Tag sinkt. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, da sie Mitte Dezember bei mehr als 10000 lag – und nun etwa doppelt so hoch. Im Januar hat sich die sogenannte Siebentageinzidenz bei um die 200 Neuinfektionen pro 100000 Einwohner eingependelt. In Deutschland ist sie jüngst unter 100 gefallen.

Aus politischen Gründen wurde die Ausgangssperre dennoch pünktlich zu Weihnachten gelockert. Ende Dezember trat eine nächtliche Sperrstunde von 20 bis 6 Uhr in Kraft, die ab dem 2. Januar zunächst für 15 besonders betroffene Départements auf 18 Uhr vorgezogen wurde. Die Sperrstunde ist seitdem nach und nach ausgedehnt worden, Mitte Januar auf das gesamte Land. Wann die seit Ende Oktober geschlossenen Restaurants, Cafés, Sportclubs und Kulturbetriebe wieder öffnen dürfen, steht in den Sternen.

Trotz der nächtlichen Sperrstunde steigen die Neuinfektionen weiter. Samstag betrugen sie 24400, Sonntag 19235. Ein Grund: Die Bevölkerungsdichte ist in Städten wie Paris im Vergleich zu deutschen Städten höher. Die Metros in der Hauptstadt sind nach wie vor relativ voll und in vielen Supermärkten herrscht seit Inkrafttreten der frühen Sperrstunde Gedränge wie nie zuvor. Viele halten die Abstandsregeln nicht ein und tragen Masken falsch. Einige Arbeitgeber sollen sich zudem sträuben, ihre Mitarbeiter im Homeoffice arbeiten zu lassen. Im Gegensatz zur Deutschen Bahn lässt die SNCF in ihren Zügen keine Plätze frei, genau wie Air France in kleineren Maschinen, die sie wegen geringer Buchungszahlen zuletzt einsetzte.

Experten skeptisch

Viele Beobachter hatten erwartet, dass die Regierung parallel zu den Winterferien, die je nach Region am 6. Februar beginnen und am 8. März enden, eine nicht ganz so strenge Ausgangssperre wie im Frühjahr verhängt. „Der Wille, das wirtschaftliche und soziale Leben zu schonen, ist deutlich, aber die Unsicherheiten bleiben erheblich und haben sich durch diese Erklärung nicht reduziert“, sagt Ökonom Jean Pisani-Ferry. „Wem glauben?“, wundert sich Natixis-Chefökonom Patrick Artus mit Verweis auf die alarmierenden Aussagen von Epidemiologen, deren Berechnungen zu dem Schluss führten, dass das Land auf eine Katastrophe zusteuere.

Das letzte Wort hinsichtlich neuer Beschränkungen ist also längst nicht gesprochen. Der für das Krisenmanagement zuständige Verteidigungsrat tagt wieder Mittwoch.