ANSICHTSSACHE

Für eine leistungsfähige Finanzindustrie in einer EU der 27

Börsen-Zeitung, 20.12.2019 Nach dem Wahlsieg von Boris Johnson ist ein geordneter Brexit in Sichtweite. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das Austrittsabkommen wird nach aller Voraussicht im Januar ratifiziert. Die Detailfragen künftiger...

Für eine leistungsfähige Finanzindustrie in einer EU der 27

Nach dem Wahlsieg von Boris Johnson ist ein geordneter Brexit in Sichtweite. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das Austrittsabkommen wird nach aller Voraussicht im Januar ratifiziert. Die Detailfragen künftiger Beziehungen sollen in dem noch auszuhandelnden weiteren Vertrag, der zum 1. Januar 2021 in Kraft treten soll, geklärt werden. Dies gilt auch für den Finanzsektor, denn im Austrittsabkommen findet sich keine einzige Zeile dazu. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der britische Finanzsektor 6,6 % zur Wirtschaftsleistung des Landes beiträgt und rund 11 % des nationalen Steueraufkommens generiert.London ist – neben New York – der global bedeutendste Finanzplatz. So entfallen fast 37 % des weltweiten Devisenhandels auf London, auf die übrigen EU-Staaten zusammen lediglich knapp 11 %. Und auch in Geschäftsfeldern wie Derivatehandel, Hedgefonds, Mergers & Acquisitions oder grenzüberschreitende Finanzierungen dominiert London. London trug zwischen 2015 und 2017 knapp ein Drittel zu den Kapitalmarktaktivitäten in der EU bei.Auch wenn sich an dieser globalen Führungsrolle Londons wenig ändern wird, wird das unmittelbare Geschäft mit Kunden in der EU deutlich eingeschränkt werden. So hat London bereits im November 2017 den Sitz der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA) verloren. Auch das Clearing von Zinsderivaten in Euro strebt zum Kontinent zurück. Die stärkste Breitenwirkung hat jedoch der Verlust des “europäischen Passes”, der rund 5 500 Finanzinstitutionen in London ermöglichte, unmittelbar Finanzdienstleistungen in den übrigen 27 EU-Ländern zu erbringen. Für viele Mitarbeiter in London bedeutet dies, den “Koffer zu packen” und sich einen neuen Standort in der EU zu suchen. Vorsprung für FrankfurtSo ist es zu einem Wettbewerb um die Ansiedlung gekommen. Frankfurt, aber auch Paris, Amsterdam, Dublin und Luxemburg gingen unmittelbar nach dem Referendum im Jahr 2016 an den Start. Lange Zeit war Frankfurt unangefochten in der Poleposition. Bei der Bewerbung um den Sitz der EBA schaffte es Frankfurt allerdings nicht einmal ins Finale. Die Entscheidung für Paris wurde zu einem Wendepunkt im Wettbewerb, der den Finanzplatz an der Seine zurück ins Rennen brachte.Frankfurt am Main ist weiterhin, wenn auch nur noch knapp, auf dem Weg, zum führenden Finanzzentrum der neuen EU-27 zu werden. Die intensive Vorbereitung vor dem Referendum, die konzentrierte Vermarktung, das AAA-Rating Deutschlands, die hoch angesehenen Aufsichtsbehörden BaFin und Bundesbank sowie die immer breiter werdende Unterstützung durch die Bundesregierung und die Ministerien in Berlin zeitigen Erfolge und kompensieren den unverständlich geringen Mitteleinsatz zumindest in Teilen.Fast 60 Anträge zur Zulassung neuer oder Erweiterung bestehender juristischer Einheiten wurden eingereicht. 1 500 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. Weitere 2 000 Arbeitsplätze werden in Kürze folgen. Viele Verantwortungsträger in London haben Arbeitsverträge, die beim Brexit den Umzug auf den Kontinent vorsehen. Im Geschäft mit OTC-Zinsswaps in Euro erreichte die Eurex Clearing im November 2019 einen Marktanteil von fast 15 %. Das Clearingvolumen betrug täglich durchschnittlich 144 Mrd. Euro, eine klare Verdopplung gegenüber 69 Mrd. Euro im Vorjahresmonat; nominal waren es 14,3 Bill. Euro oder mehr als ein Drittel über den 10,5 Bill. Euro im November 2018.Der Wettbewerb um den führenden Finanzplatz der EU ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Seit der Wahl von Emmanuel Macron zum französischen Staatspräsidenten tritt Paris mit gesteigertem Selbstbewusstsein auf. Frankreich hat die Förderung der Finanzindustrie zur Chefsache erklärt und lockt mit lukrativen Sonderregelungen und seinem attraktiven Ambiente.Frankfurt punktet dagegen mit verlässlichen Rahmenbedingungen und günstigen Kosten. Die Infrastruktur ist im internationalen Vergleich exzellent: Frankfurt verfügt über den weltweit leistungsstärksten kommerziellen Internetknotenpunkt, der Flughafen belegt im globalen Ranking Platz 2 bei internationalen Verbindungen und in der Lebensqualität rangiert die Mainmetropole seit Jahren auf Platz 7 weltweit. EU ist handlungsfähigAb Februar 2020 werden die Verhandlungen beginnen. Die Chancen stehen gut: Zeitgleich sind Frankreich und Deutschland handlungsfähig, und die EU-Kommission hat mit Ursula von der Leyen eine Präsidentin, die Akzente setzen will. Es ist zudem eine glückliche Fügung, dass Deutschland im zweiten Halbjahr 2020 die Ratspräsidentschaft der EU innehaben wird und so Impulse setzen kann.Ursula von der Leyen will zudem den Euro zu einer Leitwährung entwickeln. Dafür haben die Harvard-Professoren Reinhart und Rogoff einen Forderungskatalog aufgestellt. Ihrer Ansicht nach schlägt sich der Euro unter Wert, weil das Angebot an sicheren Anlagemöglichkeiten in Euro zu knapp ist. Sie vermissen ein international wettbewerbsfähiges Finanzzentrum im Euroraum, mit volumenstarken Aktien- und Anleihemärkten, attraktiven Steuersätzen und einem international angewandten Rechtssystem. Sie verweisen auf die begrenzte geopolitische Bedeutung des Euro und betonen die Führungsrolle von USA und China im Technologiewettlauf.All die angepeilten Vorhaben werden nur dann erreicht werden können, wenn die Finanzplätze Frankfurt und Paris enger kooperieren. Herausforderungen gibt es 2020 also viele, Chancen auch! Ob Frankfurt diese ergreifen kann, wird das neue Jahr schonungslos zeigen und damit die Weichen für Wohlstand und Beschäftigung der Stadt stellen. Die Zukunft des Finanzplatzes ist gerade ,in der Mache’. Jetzt braucht es Macher. Hubertus Väth ist Geschäftsführer der Frankfurt Main Finance e.V. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——-Von Hubertus Väth Frankfurt am Main ist weiterhin, wenn auch nur noch knapp, auf dem Weg, zum führenden Finanzzentrum der neuen EU-27 zu werden.