Rückkehr der Staatsschuldenkrise im Euroraum?
Rückkehr der Staatsschuldenkrise im Euroraum?
Die Staatsschulden im Euroraum steigen rasant. Mit Ausnahme Deutschlands liegen die Verbindlichkeiten verglichen mit der Wirtschaftsleistung in allen großen Mitgliedsländern bereits höher als vor Ausbruch der Staatsschuldenkrise im Jahr 2010. Verständlicherweise befürchten mehr und mehr Anleger, dass es irgendwann zu einer neuen Staatsschuldenkrise kommt. Aber das naheliegende Szenario muss nicht das wahrscheinlichste sein.
Zunächst einmal werden die Staatsschulden weiter rasch zulegen. So müssen fällig werdende Anleihen mit sehr niedrigen Zinsen zunehmend durch Anleihen mit höheren Zinsen ersetzt werden. Hinzu kommen steigende Ausgaben wegen der Alterung der Gesellschaft und höhere Verteidigungsausgaben.
Veränderte Rolle der EZB
Die Staatsschulden Italiens dürften in zehn Jahren fast 150% des BIP erreichen. Die Staatsschuldenquote Frankreichs wird bis dahin wohl nur wenig unter der Italiens liegen. Beim einstigen Musterschüler Deutschland dürfte die Quote von zuletzt gut 60% auf 90% steigen. Die hohen Schulden können irgendwann zu ernsthaften Problemen am Rentenmarkt führen. Aber gegen eine neue Staatsschuldenkrise spricht die veränderte Rolle der EZB.
So hat die EZB in den Jahren 2010 bis 2012 erfahren, wie schmerzhaft und vor allem gefährlich eine Staatsschuldenkrise ist. Die Währungsunion war phasenweise in ihrer Existenz bedroht. Die EZB würde bei einer sich abzeichnenden Krise nicht noch einmal lange auf das Eingreifen der eigentlich verantwortlichen Staats- und Regierungschefs warten, sondern rasch selbst handeln.
Programm TPI gibt EZB Spielräume
Darüber hinaus verfügt die EZB mittlerweile über schnell wirkende Instrumente. So war es beim 2012 beschlossenen OMT-Programm für breitangelegte Anleihekäufe noch notwendig, dass ein in Not geratenes Land vorher einen Hilfsantrag beim ESM-Rettungsfonds der Finanzminister stellt und gewisse Reformauflagen erfüllt. Dagegen darf die EZB im Rahmen des 2022 beschlossenen TPI-Programms faktisch in eigenem Ermessen Anleihen eines in Not geratenen Mitgliedslandes kaufen, ohne dass das Land Reformauflagen zu erfüllen hat und die anderen Mitgliedsländer zustimmen müssen. Es reicht am Ende aus, dass die EZB die Renditeaufschläge eines Landes mit Blick auf Fundamentaldaten als zu hoch betrachtet. Staatsanleihenkäufe sind schon lange kein Tabu mehr.
Letztlich dürfte es der EZB gelingen, bei einem sich anbahnenden Käuferstreik am Rentenmarkt eine Staatsschuldenkrise recht schnell einzudämmen. Aber das Einspannen der EZB als finanzpolitischer Ausputzer geht mit massiven Nebenwirkungen einher.
Massive Nebenwirkungen
Erstens gerät die EZB in einen Zielkonflikt. Sie kann auf Dauer nicht gleichzeitig für stabile Preise und für eine reibungslose Finanzierung eigentlich zu hoher Staatsschulden sorgen. Massive Anleihekäufe erhöhen nicht nur die Guthaben der Banken bei der EZB, sondern irgendwann auch die Geldmenge in der Hand der Bürger und Unternehmen und damit die Inflation. Das konnte man während der Corona-Krise sehen.

Pavel Becker
Zweitens animiert die EZB die Finanzminister durch ihre faktische Finanzierungsgarantie dazu, mehr Schulden aufzunehmen. Aber höhere Staatsschulden entziehen letztlich dem privaten Sektor Ressourcen und schwächen das Wachstumspotential der Volkswirtschaften.
Drittens droht eine Interventionsspirale. Sollte sich das Instrument der Staatsanleihekäufe abnutzen, könnten die Finanzminister im Extrem weitere Maßnahmen ergreifen, um künstlich Nachfrage nach ihren Anleihen zu schaffen. So könnten sie Versicherungen oder Banken dazu zwingen, mehr Staatsanleihen zu halten. Nicht undenkbar wäre auch das Verbot, Kapital ins Ausland zu transferieren oder Gold zu halten.
Risiken für die Währungsunion
Diese Formen der finanziellen Repression gab es in vielen westlichen Ländern in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, um die damals hohen Staatsschulden leichter tragen zu können. Letztlich ging das zu Lasten der privaten Anleger.
Viertens könnte ein Einspannen der EZB zur Staatsfinanzierung den politischen Zusammenhalt in der Währungsunion gefährden. Durch Staatsanleihekäufe in großem Stil verteilt die EZB nämlich Risiken von hoch verschuldeten zu niedrig verschuldeten Staaten um. Käme es dann noch zu einer Inflation, könnte die Bevölkerung eines ehemaligen Hartwährungslandes irgendwann das zweifellos hohe Risiko eines Austritts aus der Währungsunion in Kauf nehmen.
Alles in allem verfügt die EZB über das Instrumentarium, um trotz massiv steigender Staatsschulden das Risiko einer neuen Krise einzudämmen. Aber das ginge mit einer Deformation der Währungsunion einher, die in letzter Konsequenz das politische Fundament des Euroraums gefährdet.