30 Jahre Aim: Die Feierlaune hält sich in Grenzen
Im Blickfeld
30 Jahre Aim: Die Feierlaune hält sich in Grenzen
Das Wachstumssegment der London Stock Exchange dümpelt vor sich hin. Die Zahl der notierten Firmen sinkt. Start-ups bleiben länger privat, die Regulierung erdrückt.
Von Andreas Hippin, London
Wenn die London Stock Exchange Group am Donnerstag bei der Handelseröffnung das 30-jährige Bestehen des Wachstumssegments Aim begeht, wird sich die Feierlaune in Grenzen halten. Denn die Zahl der notierten Gesellschaften schrumpft. Firmen lassen sich mit einem Initial Public Offering länger Zeit als früher, weil ihnen andere Möglichkeiten zur Finanzierung offenstehen.
Die Zahl der Unternehmen, die sich für ein Delisting entscheiden, steigt. Und die Chefs attraktiver Firmen wie der Neobank Revolut machen öffentlich klar, dass für sie ein Börsengang in London kein Thema ist. Niedrige Liquidität, schwindendes Anlegervertrauen und ein schrumpfender Pool von verfügbarem Kapital gehören zu den Gründen, die sie dafür nennen.
Immer striktere Regeln
Die Kosten der Notierung und die regulatorischen Mühen, die damit einhergehen, werden ebenfalls häufig angeführt. Der British Business Bank zufolge kostet ein IPO um die 600.000 Pfund. Die Notierung schlage mit 500.000 Pfund pro Jahr zu Buche. Colin Wright, Chairman der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft UHY Hacker Young in Großbritannien, fordert eine Reduzierung der Berichterstattungspflichten und Corporate-Governance-Anforderungen.
„Immer striktere Regeln für Aim-Gesellschaften haben die Qualität der dort notierten Unternehmen erhöht, aber vielleicht ist man bei diesem Prozess zu weit gegangen“, sagt Wright. Aim stehe mittlerweile in einem viel härteren Wettbewerb mit anderen europäischen Börsen und Finanzinvestoren. „Geld von Private Equity einzusammeln, bringt offensichtlich nur sehr wenige der mit einer Aim-Notierung verbundenen aufsichtsrechtlichen Belastungen mit sich“, sagt Wright.
Rasante Schrumpfung
„Es ist kein Geheimnis, dass Aim in den vergangenen Jahren zu kämpfen hatte“, sagt Jason Holland, Managing Director beim Wealth Manager Evelyn Partners. Er erwähnt neben der Flaute bei Neuemissionen Buyouts durch Private-Equity-Gesellschaften und Abwanderung ins Ausland. „Tatsächlich ist Aim rasant geschrumpft“, sagt Holland. „Die Zahl der dort notierten Gesellschaften beläuft sich nur noch auf rund ein Drittel der 2007 erreichten höchsten Zahl.“
Manche Aim-Gesellschaften steigen auch an den Main Market auf, darunter Erfolgsgeschichten wie der Versicherer Hiscox. Nach Schätzung des Brokers AJ Bell haben 130 Firmen seit 2004 diesen Weg eingeschlagen. Von den Firmen, die in den ersten sechs Monaten nach dem Start des neuen Segments 1995 an den Markt gingen, seien nur noch elf dort notiert, darunter Eco Animal Health (zuvor Lawrence), IG Design (zuvor International Greetings) und Wynnstay Properties.
Rufe nach Schließung
Das Tony Blair Institute for Global Change und die Labour nahestehende Denkfabrik Onward forderten bereits im vergangenen Jahr, das Börsensegment zu schließen. Stattdessen müsse ein schneller Weg an den Main Market der London Stock Exchange geschaffen werden, der ähnliche steuerliche und regulatorische Vorteile biete, allerdings mit zeitlicher Befristung. „Aim hat seinen erklärten Zweck verfehlt, wachsenden Unternehmen ein Zuhause zu bieten“, heißt es in einer Studie aus dem Oktober 2024.
Vergangene Woche wurde die Forderung nach einem direkten Weg an das Hauptsegment der LSE im Diskussionspaper „From Startup to Scaleup: Turning UK Innovation Into Prosperity and Power“ des Thinktanks des ehemaligen Labour-Premierministers wiederholt. Die Steuerprivilegien für Aim-Gesellschaften müssten weg. Das würde „die Feuerkraft darauf konzentrieren, die LSE so konkurrenzfähig wie möglich zu machen“.
Konkurrent Pisces geht an den Start
Das von der LSE angestoßene Private Intermittent Securities & Capital Exchange System (Pisces) könnte die Probleme von Aim noch verschärfen. Es handelt sich um einen Markt für private Unternehmensbeteiligungen. Die Finanzaufsicht FCA hat dafür bereits grünes Licht gegeben. „Einige private Firmen, die vielleicht bislang über den Gang an das Segment Aim als nächsten Schritt nachgedacht haben, könnten zu dem Schluss kommen, dass das eine viel bessere Option für die nächste Phase ihrer Entwicklung ist“, sagt Holland.
Dabei hat sich das als Alternative Investment Market gestartete Wachstumssegment als erstaunlich langlebig erwiesen. Der Neue Markt der Deutschen Börse brachte es auf lediglich sechs Jahre. Im Juni 1995 ging Aim mit gerade einmal zehn Unternehmen an den Start. Zu den bekannteren Namen am Marktsegment gehören der Tonic-Water-Hersteller Fevertree Drinks, der Meinungsforscher Yougov und der Einwegmodehändler Boohoo.com.
Wilde Jahre
Gemessen an der Marktkapitalisierung ist die Fluggesellschaft Jet2 der schwerste Wert. Der Schokoladenhersteller Hotel Chocolat, den die LSEG auf ihrer Website als Aim-Erfolgsgeschichte aufführt, wurde vor zwei Jahren von Mars übernommen und vom Kurszettel gestrichen.
Lange galt Aim als Wildwest-Segment. Roel Campos, ein Kommissionsmitglied der US-Börsenaufsicht SEC, sorgte einst mit der Bemerkung für Aufruhr, dass es sich beim Aim um ein „Kasino“ handele. 30% der dort notierten Firmen gebe es nach einem Jahr nicht mehr. „Das fühlt sich für mich wie ein Kasino an, und ich glaube, dass Investoren es als solches behandeln werden“, sagte Campos damals. Eine Studie von Absolventen der Manchester Business School kam danach zu dem Ergebnis, dass sich die Überlebensquote der Aim-Firmen in den drei Jahren nach dem Börsengang nicht wesentlich von der nordamerikanischer Gesellschaften unterscheidet.
Reichlich Skandale
An Skandalen herrschte in der Aim-Geschichte kein Mangel. Vielen Anlegern dürfte Langbar International im Gedächtnis geblieben sein. Das 2003 an die Börse gebrachte Investmentvehikel brach zwei Jahre später zusammen, als sich herausstellte, dass es die vermeintlichen Assets gar nicht gab. Der Klimaanlageninstallateur Worthington Nicholls buchte Umsätze, die sich nicht belegen ließen, und rief die Betrugsbekämpfungsbehörde Serious Fraud Office auf den Plan.
Patisserie Valerie war ein weiterer spektakulärer Fall. Der Serienunternehmer Luke Johnson (Pizza Express) brachte die Kaffeehauskette 2014 an das Wachstumssegment der London Stock Exchange. Im Oktober 2018 wurde bekannt, dass in der Bilanz des einstigen Börsenlieblings ein schwarzes Loch klafft. Per Ende März 2018 hatte das Unternehmen noch liquide Mittel von 28,8 Mill. Pfund ausgewiesen. Später stellte sich heraus, dass es Tausende unrichtiger Einträge in den Büchern gab. Rentabilität und Cash-flow waren zu hoch angegeben worden. Johnson war das Fehlverhalten seiner Angestellten entgangen.

Wichtiger Beitrag zur Gesamtwirtschaft
In den 30 Jahren seines Bestehens waren am Segment Aim mehr als 4.000 Firmen gelistet, die insgesamt 48 Mrd. Pfund einsammelten. Bei weiteren Kapitalmaßnahmen kamen 87 Mrd. Pfund zusammen.
Die Wirtschaftsprüfer von Grant Thornton schätzen den Beitrag der Aim-Gesellschaften zum Bruttoinlandsprodukt des Jahres 2023 auf 35,7 Mrd. Pfund. Wie aus einer vom Börsenbetreiber LSEG in Auftrag gegebenen Studie hervorgeht, beschäftigen sie mehr als 410.000 Menschen. Die von den Firmen gezahlten Steuern beziffern die Verfasser mit 5,4 Mrd. Pfund. Nimmt man die indirekten Beschäftigungseffekte wie die Auswirkungen auf Zulieferer und die von den Mitarbeitern ausgegebenen Löhne und Gehälter mit dazu, kommen sie auf mehr als 778.000 Stellen und einen Beitrag zum BIP von 68,0 Mrd. Pfund. Im März dieses Jahres waren noch 679 Firmen am Aim notiert, so UHY Hacker Young. Das sei die niedrigste Zahl seit 2001.