Washington

Die wirtschaftlichen Kosten eines kontroversen Urteils

Das vom Obersten Gerichtshof der USA verhängte Abtreibungsverbot hat 50 Jahre nach dem legendären Roe-gegen-Wade-Urteil die Nation tief gespalten. Übersehen wird inmitten der hitzigen Debatte häufig, welche immensen, gesamtwirtschaftlichen Kosten das Verbot verursacht.

Die wirtschaftlichen Kosten eines kontroversen Urteils

Seit Jahrzehnten hat in den USA ­die polarisierende Debatte über Schwangerschaftsabbrüche die Na­tion tief gespalten. Nun hat die historische Entscheidung des Supreme Court, das 50 Jahre alte Urteil Roe gegen Wade zu kippen und damit ein faktisches Abtreibungsverbot zu verhängen, die Gemüter wieder richtig hochkochen lassen. Erstmals werden aber nicht nur ideologische und religiöse Argumente ins Feld geführt, sondern auch ökonomische. Experten zufolge werden nämlich neue Restriktionen, die in vielen Staaten zeitgleich mit der Urteilsverkündung in Kraft traten, massiv auf das Wachstum, die ­Verschuldung und auch die Produktivität der Unternehmen durchschlagen.

Angestoßen wurde die Diskussion über die wirtschaftlichen Folgen von US-Finanzministerin Janet Yellen. Sie ist der Auffassung, dass das jüngste Urteil Frauen im Berufsleben und finanziell „um Jahrzehnte zurückversetzen wird“. In neun Staaten traten sogenannte Zombie-Gesetze wieder in Kraft. Diese haben zur Folge, dass sofort wieder die Rechtslage vor Roe gegen Wade gilt. In den kommenden Wochen wird damit gerechnet, dass in 26 der 50 US-Staaten die Landesparlamente Abtreibungen unter Strafe stellen werden.

Bleibt Frauen im erwerbsfähigen Alter dort das Recht verwehrt, frei über einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden, dann würden die Partizipationsrate und die Einkommen sinken, argumentiert Yellen. Besonders stark betroffen wären demnach Schwangere in ärmeren Gegenden, die sich aus dem Berufsleben zurückziehen müssen, sich folglich verschulden und in Armut abgleiten könnten, fürchtet die Ministerin.

Konkreter wird das Forschungsinstitut Institute for Womens’ Policy Research (IWPR). Es hat vorgerechnet, dass die Umsetzung von Abtreibungsverboten die betreffenden Staaten jedes Jahr 105 Mrd. Dollar kostet. Müssen schwangere Frauen ein Kind zur Welt bringen und großziehen, dann werde das kollektive Bildungsniveau absinken, weil viele Mütter ein Studium oder eine Ausbildung abbrechen müssten. Auch würde die Produktivität der Unternehmen leiden, weil diese wichtige Mitarbeiter verlieren. Schließlich machten Frauen in den USA vergangenes Jahr fast 58% aller berufstätigen Personen aus. Hätte Roe gegen Wade weiter Bestand, dann würden laut IWPR über eine halbe Million mehr Frauen im erwerbsfähigen Alter einen Job haben, und das kumulative Einkommen aller Erwerbstätigen im gebärfähigen Alter würde jährlich um 101 Mrd. Dollar höher sein, ist das Institut überzeugt.

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Bald nach dem Urteil meldeten sich zahlreiche Unternehmen zu Wort, die ihre Mitarbeiterinnen vor den Eingriffen des Obersten Gerichtshofs schützen wollen. Die Wall-Street-Giganten Goldman Sachs und J.P. Morgan wollen die Reisen in Staaten bezahlen, in denen Schwangerschaftsabbrüche legal durchgeführt werden können. Apple will für schwangere Angestellte, die in Texas leben, wo das Verbot besonders strikt ist, die Kosten der Anreise und Behandlung in einem anderen Staat übernehmen.

Auch Microsoft, Meta und andere Tech-Riesen haben bald nach der Urteilsverkündung mitgeteilt, dass sie Abtreibungsrechte unterstützen und Mitarbeiterinnen mit Blick auf die entstehenden Kosten entlasten wollen. Einen Schritt weiter ging der Fahrdienst Lyft. Das Unternehmen hatte zunächst Fahrern, die in Oklahoma leben, zugesichert, dort für Rechtsanwälte zu zahlen und ihnen anfallende Gerichtskosten abzunehmen. Oklahoma ist neben Texas einer von zwei Staaten, in denen Privatbürger beliebige Fremde verklagen können, wenn sie vermuten, dass diese zu der Durchführung einer Abtreibung beigetragen haben.

Das kann sich auch auf Taxi-Fahrer oder Mitarbeiter von Fahr­diensten wie Uber und Lyft beziehen. Gouverneur Kevin Sitt begründete das Gesetz damit, dass er das Ziel habe, Oklahoma zu „dem stärksten Pro-Life-Staat Amerikas zu machen“. Ähnliche Gesetze könnten auch in anderen Südstaaten verabschiedet werden. Folglich kündigte Lyft an, dass die Rechtshilfe künftig überall dort gelten würde, wo Fahrer allein deswegen Konsequenzen befürchten müssen, weil sie ihrem Beruf nachgehen.

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