Fluchtursache Steuerbelastung
Notiert in London
Fluchtursache Steuerbelastung
von Andreas Hippin
Das Verkehrsaufkommen in den Gewässern rund um das Vereinigte Königreich ist enorm. Einerseits flüchten Tausende aus Frankreich auf Schlauchbooten Richtung englische Küste. Andererseits verlassen Millionäre das Land in großer Zahl mit ihren Superyachten. Diesen Eindruck könnte man zumindest bekommen, wenn man die Berichterstattung der britischen Medien verfolgt. Die wachsende Steuerbelastung wird dort zur Fluchtursache erklärt, die vermeintliche Leistungsträger in Scharen aus dem Land treibt.
Wie die „Financial Times“ ermittelte, verließen 3.790 Boardmitglieder britischer Unternehmen das Land, seitdem die Labour-Schatzkanzlerin Rachel Reeves Ende Oktober vergangenen Jahres drastische Steuer- und Abgabenerhöhungen bekannt gab.
Standortvorteil Ehegattensplitting
Deutschland war nach den Vereinigten Arabischen Emiraten das beliebteste Zielland der abwanderungswilligen Boardmitglieder. Das war allerdings nicht einem plötzlichen Heißhunger auf Schweinshaxen oder übermäßigem Weißbierdurst geschuldet. Es handelte sich vielmehr – wie bei denen, die in die Volksrepublik China übersiedelten – um Rückkehrer.
Kein Wunder: Von Steuervorteilen wie dem deutschen Ehegattensplitting konnten angestellte Besserverdiener in Großbritannien schon vor dem Regierungswechsel nur träumen. Wenn die Daumenschrauben immer weiter angezogen werden, wächst das Heimweh. Zumal Labour die Unzufriedenheit der Bevölkerung gerne in pseudoklassenkämpferische Neidkampagnen kanalisiert. Man erinnere sich nur an den Streit um den „Non-Dom-Status“, der ermöglichte, ausländische Einkünfte dort zu versteuern, wo sie anfallen.
Bösartige Attacken
Rishi Sunaks Ehefrau Akshata hatte deshalb unter bösartigen Attacken zu leiden. Sie ist die Tochter von Nagavara Ramarao Narayana Murty, der den IT-Dienstleister Infosys mitgegründet hat. „Er sollte mit seiner Millionärsfrau zurück nach Indien gehen“, forderte etwa der Londoner Labour-Politiker Peter Carpenter auf Twitter. Dass Sunak in Southampton das Licht der Welt erblickte, spielte dabei keine große Rolle.
Doch sind es weniger die Besitzenden wie Akshata Murty, die dem Vereinigten Königreich den Rücken kehren. Es sind Lohn- und Gehaltsempfänger, denen das nicht reicht, was nach all den Abzügen noch für sie übrig bleibt. Hinzu kommen die steigenden Lebenshaltungskosten.
Richtungswechsel
Früher suchten Menschen aus „Down Under" in London Arbeit und waren bereit, Tausende von Pfund für Visum und Arbeitserlaubnis auszugeben. Mittlerweile hat sich das umgekehrt: Im vergangenen Jahr machten sich knapp 50.000 Briten mit einem Working-Holiday-Visum auf den Weg nach Australien. Sie können dort nun bis zu drei Jahre bleiben. Die begeisterten Berichte der Automechaniker, Dachdecker und sonstigen Handwerker, die in der ehemaligen Strafkolonie hängengeblieben sind, im Reality TV lassen nur einen Schluss zu: Großbritannien droht, zum Auswanderungsland für qualifizierte Arbeitskräfte zu werden.