LeitartikelTech-Regulierung

Frösche vor Schlangen

Kartellbehörden und Regulierer knöpfen sich mit Vehemenz die etablierten Tech-Konzerne vor, während neue KI-Anbieter zur nächsten Disruption ansetzen – und Deutschland faxt.

Frösche vor Schlangen

Tech-Regulierung

Frösche vor Schlangen

Von Lutz Knappmann

Regulierer knöpfen sich etablierte Tech-Konzerne vor, während KI zur nächsten Disruption ansetzt – und Deutschland faxt.

Für Superlative ist die Digitalbranche immer gut. Und so ist es nach Ansicht der Beteiligten das größte Kartellverfahren seit 25 Jahren, das diese Woche in Washington, D.C. beginnt: Ein US-Bezirksgericht verhandelt über den Vorwurf, Google missbrauche seine Marktmacht. Der Suchmaschinenkonzern zahle Geräteherstellern wie Apple oder Mobilfunkern wie AT&T Milliardensummen, damit sie Google als Standard-Suchmaschine anbieten, lautet eines der Argumente des US-Justizministeriums. Als Vorbild dienen Prozesse aus den Jahren 1974 gegen AT&T und 1988 gegen Microsoft, die für die Konzerne tiefgreifende Folgen hatten. AT&T wurde zerschlagen, Microsoft musste den Internet Explorer aus dem Betriebssystem Windows herauslösen. Und jetzt, so die Perspektive, könnte auch Google vor strengen regulatorischen Eingriffen stehen.

So entsteht der für viele Digitalskeptiker wohlige Eindruck, dass Politik, Justiz und Aufsichtsbehörden nun endlich dem einschüchternden Datenriesen auf den Leib rücken. Denn hat nicht gerade die EU-Kommission mit dem Digital Markets Act auch diesseits des Atlantiks den Boden bereitet, Alphabet, Meta und Co. an die kurze Leine zu nehmen?

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es gibt mannigfaltige Gründe, die Marktmacht der Digitalkonzerne zu problematisieren, ihre Geschäftsmodelle zu regulieren, gegen die Dysfunktionalität vieler Marktsegmente vorzugehen. Die Tatsache, dass ein einzelner Milliardär wie Elon Musk ein Soziales Netzwerk (formerly known as Twitter) und seine Milliarden-Reichweite in Geiselhaft für seine libertäre Agenda nehmen kann, ist allein schon Beleg genug, dass der regulatorische Rahmen und der tatsächliche Einfluss der Unternehmen in krassem Missverhältnis stehen.

Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört aber: Die öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung mit den Tech-Platzhirschen lenkt die Aufmerksamkeit schnell davon ab, dass der Handlungsbedarf anderenorts noch dringlicher ist – und zwar gleichermaßen vor wie hinter der Kurve.

Die nächste Disruptionswelle rollt längst auf Wirtschaft und Gesellschaft zu – in Form von künstlicher Intelligenz und bis vor kurzem noch unbekannten Firmen wie OpenAI. Zu ihrem eigenen Erstaunen waren Google, Meta und Microsoft im aufwallenden Hype um die selbstlernenden digitalen Antwortmaschinen plötzlich nur noch Beifahrer. Und ihre ersten unbeholfenen und erstaunlich fehleranfälligen Versuche, dem Neuling ChatGPT mit eigenen KI-Bots den Rang abzulaufen, zeigten vor allem eines: Auch die Digital-Dominatoren sind nicht unangreifbar. Der Eindruck verfestigt sich, dass Washington und Brüssel eifrig der Entwicklung hinterherregulieren. Das ist die Perspektive vor der Kurve, der Realitätsabgleich mit dem Innovationsstand der Tech-Vorreiter.

Und dann ist da die Perspektive aus Deutschland, mit anderen Worten: hinter der Kurve. Das Lagebild des Bundeswirtschaftsministeriums kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis: "Das Digitalisierungsmomentum der Corona-Pandemie hat noch nicht zu einem umfassenden und nachhaltigen Digitalisierungsschub in der deutschen Wirtschaft geführt", heißt es dort nüchtern.

Beispiel gefällig? 82% der Unternehmen nutzen auch heute noch das Fax, 40% sogar intensiv, geht aus einer Studie des Digitalverbands Bitkom hervor. Nur ein kleines Phänomen, aber symptomatisch. Mit Google hat das nichts zu tun. Wirtschaft und Verwaltung sind vielerorts weit davon entfernt, mit der Marktmacht der Tech-Riesen überhaupt in Berührung zu kommen.

Die Skepsis gegenüber mächtigen Konzernen taugt nicht als Argument dafür, sich der Digitalisierung grundsätzlich zu verweigern. Die Dämonisierung sinnbildlicher Datenkraken ist kein Hinderungsgrund, steinzeitliche Verwaltungsprozesse benutzerfreundlicher zu gestalten. Ganz im Gegenteil: Notwendig ist eine bewusste und informierte Anstrengung, digitale Technologien wertschöpfend einzusetzen. Denn auf den Markt kommen sie ohnehin. Bereiten wir uns also vor.