Kommentar75 Jahre Tarifvertragsgesetz

Gewerkschaften auf neuem Terrain

Gesellschaftliche Veränderungen unterminieren die Tarifautonomie und setzen den Gewerkschaften zu. Sie müssen sich neu erfinden und ihre Angebote ausweiten.

Gewerkschaften auf neuem Terrain

75 Jahre Tarifvertrag

Gewerkschaften
auf neuem Terrain

Von Stephan Lorz

Tarifverträge sind ein Eckpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft. Sie haben über 75 Jahre für ein geordnetes Miteinander von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gesorgt und den Staat aus dem Tarifgeschehen herausgehalten. Denn die unmittelbar Beteiligten am Arbeitsprozess wissen am allerbesten, wie die Zusammenarbeit zu regeln ist. Der Erfolg der deutschen Wirtschaft ist auch der Tarifautonomie zuzuschreiben. Zudem hielt sich die Zahl der Streiks in Grenzen, die Planungssicherheit der Unternehmen war gewährleistet, und für die Arbeitnehmer gab es auskömmliche Verdienste samt Arbeitszeitreduzierungen. Auch Gerechtigkeitsfragen wurden angegangen: Das Gender-Pay-Gap zwischen Frauen und Männern ist in tarifgebundenen Unternehmen signifikant geringer als in ungebundenen.

Doch Veränderungsprozesse unterminieren die Tariflandschaft: Arbeitgeber flüchten aus den Verträgen. Waren 1998 noch 76% aller Beschäftigten im Westen tarifgebunden, sind es aktuell nur noch 41%. Unternehmen wie Tesla und Amazon versuchen Gewerkschaften ganz aus den Betrieben herauszuhalten. Es gibt zudem wieder mehr Streiks, was die Planungssicherheit unterminiert. Spartengewerkschaften bedrohen den Betriebsfrieden und setzen den Vorteil eines gemeinsamen Tarifwerks aufs Spiel. Im Zuge der Arbeitskräfteknappheit sehen sich zudem immer mehr Arbeitnehmer imstande, für sich selber den besten Gehaltsvertrag herauszuholen.

Ein Tariftreuegesetz soll öffentliche Stellen nun zwingen, nur noch Firmen mit Tarifvertrag für Aufträge heranzuziehen. Und auf EU-Ebene wird eine Tarifvertragsquote von 80% als Ziel angestrebt. Doch was bleibt dann noch von der „Tarifautonomie“, wenn der Staat helfen soll? Statt Verbote und Quoten zu fordern, sollten die Gewerkschaften ihre Tarifwerke individueller und flexibler machen; sie müssen sich mehr als Servicedienstleister begreifen. Und sie müssen mehr denn je die makroökonomischen Veränderungen thematisieren, wie sie etwa durch KI Einzug halten, und ihren Mitgliedern durch Weiterbildung Zukunftschancen eröffnen. Wer sonst hätte dafür die nötige praktische Expertise?