Moskau

Hoffnungslos, aber noch nicht ernst

Moskaus Bürgermeister will verhindern, dass die Russen in Schwermut verfallen. Nicht die einzige Form von Schizophrenie im Land.

Hoffnungslos, aber noch nicht ernst

Das nenne ich eine Initiative! Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, der sich bei Kremlchef Wladimir Putin in den Zeiten der Pandemie abermals einen Namen als effizienter praktischer Manager gemacht hat und früher schon mal als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt wurde, ehe es zuletzt um ihn etwas leiser geworden ist, hat befunden, dass die Stadtbewohner wieder einmal abstimmen sollten. Offenbar denkt er, dass die Russinnen und Russen, die ja im politischen Prozess so gut wie nicht mitreden dürfen, das Gefühl haben sollten, nicht gänzlich ignoriert zu werden. Und so lässt er sie darüber abstimmen, in welcher Form Moskau das diesjährige Neujahrsfest, das wichtigste familiäre Fest im Land, feiern sollte. Auf dem Online-Stadtportal „Aktiver Bürger“ können die Leute zwischen drei Varianten wählen.

Der Ernst der Lage und die Relevanz besteht Sobjanins Ansicht nach im Folgenden: Die Leute sollten nicht in Schwermut verfallen und daher auch nicht auf Feiertage verzichten. Vielmehr sei es angebracht, die Feiertage den Soldaten und jenen Menschen zu widmen, die unermüdlich in der Verteidigungs- und Rüstungsindustrie arbeiten.

Dabei ist der Hauptauslöser für die grassierende Schwermut ja der russische Angriffskrieg in der Ukraine und – seit Ende September – die Teilmobilmachung junger Männer, die den Krieg endgültig in die Wohnzimmer jeder russischen Familie gebracht hat. Und just vor diesem Hintergrund sollten die Leute quasi als Antidepressivum Neujahr feiern, als sei nichts passiert, und gleichzeitig diese Feiern aber doch den unermüdlichen Verteidigern Russlands, die massenweise in dem völlig sinnlosen Krieg sterben, widmen. Man kann darin sicher eine Logik finden, wenn man lange genug eine sucht. Von selbst jedoch erschließt sich eine solche nicht.

Um den Leuten auf die Sprünge zu helfen, kramt Sobjanin sogar die Geschichte hervor. Selbst im Jahr 1941, als Russland (er meinte sicher die Sowjetunion) angegriffen worden sei, hätten die Menschen den Feinden zum Trotz in den Luftschutzkellern gefeiert.

Aber vielleicht trifft Sobjanin ja ungewollt wieder ins Schwarze. Denn zum einen ist der Befund richtig, dass die Menschen in Russland in einem depressiven oder zumindest prädepressiven Zustand sind und wenig Perspektiven sehen, weshalb sie längst aufgehört haben, langfristig zu planen, zumal immer mehr ihren Job verlieren. Zum anderen wird der Konnex zum Krieg nicht wirklich hergestellt, seine folgenschwere Gefährlichkeit und die fatalen Schwächen der russischen Armee werden nicht realisiert. Statt das ganze Desaster für die Ukraine und für Russland als ernst, aber vielleicht doch nicht hoffnungslos einzustufen, würden die Menschen die Situation als hoffnungslos wahrnehmen, ohne ihren Ernst schon zu kapieren, sagte dieser Tage eine Russin. Wer die Arbeit verliere, sei überzeugt, dass er schnell neue finde. Wer seine Wohnung verkaufen möchte, rechne damit, dass er das erlöste Geld schon irgendwie ins Ausland schaffen werde. „Viel Schizophrenie, viel Realitätsverweigerung, viele Illusionen.“

In Sachen Wirtschaft nährt der Staat – wie bei der Kriegspropaganda – diese Illusionen und Schizophrenien bewusst. Erst neulich hat er wieder weitere Daten unter Verschluss gestellt. Und zwar diejenigen über den Energieverbrauch, aus denen man indirekt auf den Zustand der Gesamtwirtschaft hätte schließen können. Ende Oktober schon hatte die Zeitung „Kommersant“ unter Verweis auf die vorläufigen Daten der Energiegesellschaft Russian Power System Operator geschrieben, dass die Nachfrage nach Strom in Russland zurückgeht. Die Gesellschaft erklärt die künftige Geheimhaltung der Daten nun damit, dass sich „Fälle von nicht korrekter Verwendung der operativen Daten gehäuft“ hätten.

Durch die Geheimhaltung häufen sich dann eben die Fälle von Irrglauben. Einer davon liegt darin zu meinen, dass nun alles eitel Wonne sei, weil angeblich der Dienstleistungssektor wächst. Bei genauerem Hinsehen, so erklärte es eine Ökonomin dieser Tage, sei es so, dass die Tarife für Kommunalabgaben und im öffentlichen Verkehr merkbar teurer geworden seien. Daraus ein Aufblühen des Dienstleistungssektors abzuleiten ist, gelinde gesagt, eine Spezialform der Kreativität.         

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