Im BlickfeldDeutsche Wirtschaft

Künstliche Intelligenz – der entscheidende Standortfaktor

Im Wettlauf mit den anderen Wirtschaftsmächten um die Vormacht bei der Künstlichen Intelligenz droht Deutschland den Anschluss zu verlieren. Das würde alle anderen heimische Branchen gleichfalls schwächen und das Land im Wettbewerb zurückwerfen.

Künstliche Intelligenz – der entscheidende Standortfaktor

Künstliche Intelligenz – der entscheidende Standortfaktor

Im Wettlauf mit den anderen Wirtschaftsmächten um die Vormacht bei KI und Machine Learning droht Deutschland den Anschluss zu verlieren. Das würde alle heimischen Branchen schwächen.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Das Interesse an künstlicher Intelligenz (KI) ist riesig: Nach „KI“ wird laut Google Trends in Deutschland etwa so häufig gesucht wie nach Taylor Swift. Weltweit rangiert diese Abfrage gleichauf mit der Suche rund um den Computerkonzern Apple und dessen Produktpalette. Dass diese Technologie so in aller Munde ist, sich viele davor fürchten, andere wiederum darauf freuen, liegt an ihrer gesellschaftsverändernden Kraft.

Im Gegensatz zu früheren Automatisierungswellen, die vor allem perpetuierende menschliche Tätigkeiten ersetzen konnten, wird KI jetzt auch wegen ihrer intellektuellen Fähigkeiten genutzt. Der Algorithmus hat zwar noch keine Fantasie oder Inspiration, kann aber gelernte Zusammenhänge in Sprache, Text, Bild und Wissen neu zusammensetzen, eigene Schlüsse daraus ziehen, Tendenzen erkennen und Korrelationen bilden. Das ermöglicht es, vorhandene Produkte wie Computertomografen zu verbessern, neue Produkte zu kreieren, wie Bilder und Aufsätze, und Prozesse und Analysen auf eine ganz neue Ebene zu hieven. Viele Branchen werden sich daher auf Veränderungen einstellen müssen. Das gilt etwa für die Medizin, die Justiz, das Back Office von Unternehmen bis hin zu kreativen Berufen. Alte Jobs fallen weg, verändern sich und neue entstehen. Ob Deutschland aus dieser Technikrevolution gestärkt hervorgehen wird, die Zahl der Verlierer auf dem Arbeitsmarkt eingegrenzt werden kann, hängt entscheidend davon ab, ob sich der Standort im Wettbewerb mit anderen möglichst schnell dieser Technik bemächtigt.

Status quo Deutschland

Aber auf diesem Feld scheint es ein ähnliches Problem zu geben wie seinerzeit bei der ersten Digitalisierungswelle: Deutschland war bei der Grundlagenforschung vorne dabei, hielt wichtige Patente und schaffte mit der Musikkompression MP3 weltweite Standards. Aber die Produkte, die Rechner, die Netzwerk- und Speichertechnologie, die Chips und viele Anwendungen kamen von anderswo. Unternehmen wie Microsoft, Apple, Google, Sony oder Samsung geben seither den Ton an.

Auch bei den folgenden Digitalisierungswellen (Internet, Social Media, Cloud) spülten europäische Lizenznehmer und Nutzer Milliarden in die Konzernkassen von Meta, Google, Amazon und – wieder – Microsoft. Kleine heimische Pflänzchen wie telebuch.de oder StudiVZ verschwanden. Bei den digitalen Plattformen (Facebook, Instagram, Whatsapp, Youtube) war kein einziges heimisches Unternehmen dabei. Vielmehr haben amerikanische und chinesische Unternehmen digitale Ökosysteme kreiert und für sich immer neue Nutzergruppen erschlossen. Auch im Finanzwesen hat sich keine deutsche Bank mit digitalen Produkten hervorgetan, sondern amerikanische Zahlungssysteme wie Mastercard, Visa oder Paypal dominieren den Markt.

Würde Deutschland nun bei der KI-Revolution abermals abgehängt, wäre das für die gesamte Wirtschaft fatal. Es würde nämlich nicht nur ein weiterer Teil der Wertschöpfung ins Ausland abwandern, sondern auch Know-how abfließen, weil die genutzten ausländischen KIs ja damit gefüttert werden müssen. Neue Abhängigkeiten würden entstehen. OpenAI/Microsoft und Google würden dann nicht nur in den Armaturenbrettern deutscher Autos eingesetzt und Informationen abgreifen, sondern sich im ganzen Maschinenraum der deutschen Wirtschaft ausbreiten und mehr und mehr die Produkte in ihrem Sinne vereinnahmen.

Es geht um nicht weniger als die „technologische Souveränität“, warnt die regierungsamtliche Expertenkommission Forschung & Innovation (EFI). Sie setze „voraus, dass Deutschland und Europa KI-Technologien selbst vorhalten, weiterentwickeln und bei ihrer Standardisierung mitwirken könnten; oder über die Möglichkeiten verfügen, diese Technologien ohne einseitige Abhängigkeit von anderen Wirtschaftsräumen zu beziehen und anzuwenden“, heißt es im Bundeskanzler Olaf Scholz vorgelegten Gutachten.

„Mit Sorge” sieht die Kommission im Moment, dass Deutschland und auch die EU sowohl bei der Veröffentlichung wissenschaftlicher KI-Publikationen als auch bei der Anmeldung von KI-Patenten im internationalen Vergleich weiter zurückfallen.

Auch bei der Entwicklung von bedeutenden Machine-Learning(ML)-Modellen sei die Region international „nicht führend”. 2022 stammten etwa die Hälfte der großen Sprachmodelle aus den USA, 21,9% aus Großbritannien, 8% aus China, 6,3% aus Kanada und 5,8% aus Israel. Nur 3,1% steuerte Deutschland bei. Immerhin gibt es in den jeweils wichtigen KI-Sektoren einige europäische Namen, die hier für technologischen Anschluss auch bei der Produktentwicklung sorgen können: Deutschland mit dem Modell GPTNeoX-20B bzw. mit Luminous von Aleph Alpha, und mit Mistral 7b v0.1 kam noch ein französisches Unternehmen hinzu.

Der Mangel an Rechenkapazität

Und warum wird Deutschland von anderen Ländern mehr und mehr abgehängt? Es fehlt zunächst an der Recheninfrastruktur: Sie ist die Grundlage für die Entwicklung von KI-Modellen. Diese werden in großen Cloud-Diensten durchgetestet. Die Kapazitätsansprüche wachsen rasant mit der zunehmenden „Intelligenz“ dieser Algorithmen. Derlei Größenordnungen können bisher vor allem Amazon oder Microsoft zur Verfügung stellen.

Dass diese ihre Kapazitäten in Deutschland aktuell erhöhen, liegt also nicht nur daran, mehr Geschäft mit den heimischen Anbietern im Datengeschäft zu machen, sondern auch, um an deren Wissen zu gelangen und sie langfristig an sich zu binden. Die Konzerne nehmen im Moment eine Art Gatekeeper-Rolle für KI wahr.

Die EFI-Kommission warnt denn auch vor einer Machtkonzentration auf wenige US-Konzerne und den damit entstehenden Möglichkeiten, sich in heimische Unternehmen quasi einzunisten. Außerdem könnten europäische Werte gefährdet werden, wenn Grundlagenmodelle zu verzerrten Ergebnissen bei Anwendungen, die auf ihnen aufbauen, führen und dies nicht in Eigenregie behoben werden kann.

Viele Wissenschaftler suchen daher das Heil in „Open Source“, wo eine Gemeinschaft an Entwicklern an offenen Modellen arbeitet, aber ihre Erkenntnisse mit allen teilen muss. Die Intelligenz der Herde also als Chance, die Konzerne auszustechen? Aber auch das hat einen Haken.

Wie schnell „Open Source“ in „Closed Source” umschlägt, erleben derzeit die „freien“ Entwickler des französischen KI-Konzerns Mistral. Er ist eine der großen Hoffnungen für Europas KI-Ökosystem, weil Mistral ein generatives KI-Modell fortentwickelt hat, das es mit GPT-4 von OpenAI aufnehmen kann. Mistral ist jetzt aber eine Kooperation mit Microsoft eingegangen. Und analog zur „Kooperation“ von Microsoft mit OpenAI wurde urplötzlich das bislang weitgehend offene Programm von der Open-Source-Gemeinde abgeschottet.

Der Mangel an Attraktivität für Entwickler

An humanem KI-Potenzial fehlt es in Deutschland nicht. Wissenschaftler und Entwickler aus deutschen Universitäten und Einrichtungen sind vielfach führend bei künstlicher Intelligenz. Aber sie sollten zumindest so gute Bedingungen hierzulande vorfinden, dass es sie nicht wegzieht. Sie habe viele deutsche Softwareingenieure im Silicon Valley getroffen, die wegen der besseren Angebote und Entwicklungsmöglichkeiten Deutschland verlassen hätten, warnt ZEW-Forscherin Bertschek. Und es seien nicht nur die Verdienstmöglichkeiten, sondern vor allem die technischen Möglichkeiten und dort vorhandene Infrastruktur, die in den USA obendrein auch leichter zugänglich seien. Bürokratie und Beschränkungen beim Abrufen von Forschungsmitteln in Deutschland spielten ebenfalls eine große Rolle, weil dies Freiheiten einschränke und die Entwickler demotiviere.

Mangel an Wagniskapital

Kernproblem der deutschen Entwicklerszene ist das fehlende Wagniskapital für Start-ups. Im Zeitraum 2021 bis 2023 wurden nach Recherchen der EFI-Kommission in amerikanische KI-Start-ups pro Jahr insgesamt 79,6 Mrd. US-Dollar an Wagniskapital investiert. In China seien es 28,5 Mrd. Dollar gewesen, in der EU nur 12,4 Mrd. Dollar und in Deutschland klägliche 3,6 Mrd. Dollar. Im Moment, so das ZEW, gäbe es hierzulande wohl rund 500 relevante KI-Start-ups, die alle eine Finanzierung bräuchten, um auch in den weiteren Phasen des Wachstums durchhalten und eine stabile Marktposition ergattern zu können.

Kartell-/Wettbewerbsprobleme

Gern stehen US-Konzerne, die sich in den vergangenen Digitalisierungswellen durch ihre Plattformstrategie und ihren oligopolistischen Status ein dickes Finanzpolster angelegt haben, mit einer Finanzierung bereit. Aber natürlich nicht aus Altruismus. Schon früher haben sie sich stets an kleineren Unternehmen beteiligt, um sie dann zu übernehmen und sich einzuverleiben, sodass sie nicht zur Konkurrenz heranwachsen konnten. Viel zu spät hat die Wettbewerbsaufsicht diese Taktik aufs Korn genommen. Und oftmals kann sie diesem Treiben nur zusehen, weil die Konzerne Fakten schaffen und die Gerichte erst nach Jahren letztinstanzlich entscheiden.

Mit der KI-Welle droht nun die nächste Welle einer Vermachtung der Märkte. Und das Eindringen großer Konzerne in die Wertschöpfungsketten ihnen eigentlich fremder Branchen macht es noch schlimmer – und spült ihnen noch mehr Profite in die Kassen. Zumal es ihnen nun möglich ist, ihre Marktposition mit ins KI-Zeitalter zu nehmen und noch auszubauen.

Ob Deutschland die KI-Revolution für sich als Erfolg verbuchen kann, wird also in der Gegenwart entschieden: Mehr Geld für Rechenkapazitäten, Cloud-Infrastruktur, rechtssicheres Datenmaterial für das Training der Modelle und eine hohe Attraktivität für die heimische Entwickler-Community sind die Voraussetzung. Kommen noch erkleckliche Summen an Wagniskapital hinzu und sichern die Kartellbehörden den Wettbewerb in den Märkten, können heimische Unternehmen guten Mutes dem KI-Zeitalter entgegensehen, das sich dann nicht als Dystopie, sondern womöglich als Utopie herausstellt.

Mehr zum Thema Künstliche Intelligenz in der Börsen-Zeitung:

Interview mit Irene Bertschek, ZEW: Sorge um Deutschlands digitale Souveränität

Leitartikel: Wohl und Wehe des Standorts hängt an der Bildungspolitik

Sorge um das KI-Proletariat

Interview mit Kristian Kersting, TU-Darmstadt: „Wer prüft das KI-Prüfsystem?”

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