Im BlickfeldKünstliche Intelligenz

Künstliche Intelligenz revolutioniert die Steuerberatung

In den USA hat ChatGPT das Examen für Wirtschaftsprüfer und Steuerberater geschafft. Die Steuerberatung werde revolutioniert, ist WTS-Chef Fritz Esterer überzeugt. Die größte Veränderung, welche die Branche jemals erlebt hat.

Künstliche Intelligenz revolutioniert die Steuerberatung

Künstliche Intelligenz revolutioniert die Steuerberatung

Geschäftsmodelle geraten unter Druck – Branchenriese WTS setzt auf den Ausbau der Prozessberatung

Von Michael Flämig, München

Wer Steuerberater werden will, der muss leidensfähig sein. Denn das Examen gilt als extrem anspruchsvolle Prüfung. In Deutschland scheitert jeder zweite angehende Berater im ersten Versuch. Insofern ist es sensationell, dass ChatGPT nun in den USA die Hürde zum Steuerberater genommen hat. Eine neuere und von der Universität Duisburg-Essen trainierte Version der künstlichen Intelligenz (KI) hat im Frühsommer das US-Examen für Wirtschaftsprüfer und Steuerberater geschafft.

Zwar würde ChatGPT wahrscheinlich aktuell in Deutschland weiterhin durchfallen. Denn in den USA müssen die Prüflinge Multiple-Choice-Fragen beantworten, während hierzulande konkrete Anwendungsfälle hinzukommen. Die KI hat allerdings bewiesen, wie schnell sie sich aufrüsten lässt: Auch in den USA war sie im ersten Anlauf krachend gescheitert mit im Schnitt 53% der erreichbaren Prüfungspunkte. Nun kann sie durchschnittlich 85% vorweisen. ChatGPT und Co. würden ganze Berufe verändern, meint Marc Eulerich, Professor für Interne Revision an der Mercator School of Management der Uni Duisburg-Essen.

Auch der Münchner Branchenriese WTS ist der Überzeugung, dass künstliche Intelligenz inklusive ChatGPT die Steuerberatung revolutionieren wird. „Das scheint die größte Veränderung in unserer Branche zu werden, die es jemals gegeben hat“, erklärt Vorstandsvorsitzender Fritz Esterer im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Insbesondere die juristisch geprägten Beratungsgesellschaften müssten sich anpassen: „Dort werden in absehbarer Zeit zahlreiche Tätigkeiten durch die künstliche Intelligenz übernommen werden können.“ Aktuell würden das viele noch nicht wahrhaben wollen.

WTS dagegen sei gut positioniert, weil sie traditionell Mandanten nicht nur mit steuerfachlicher Expertise unterstütze, sondern auch eine steuerliche Prozessberatung biete: „Mein Lieblingsspruch seit Jahren ist: Der Steuerberater wird zum steuerlichen Prozessberater.“

„Das ist der Wahnsinn“

Man könne mittlerweile mit Hilfe von künstlicher Intelligenz sogar komplexe Steuererklärungsprozesse abbilden − die eine vorbereitende Tätigkeit für die eigentliche Steuererklärung sind, berichtet Esterer. „Wir haben das getestet. Das ist der Wahnsinn.“ Das Joint Venture WTS AI, für das WTS bei der Gründung 2018 auf den Partner Qunis setzte, wurde zwar wieder aufgelöst. Doch WTS werde künftig in diesem Umfeld selektiv IT-Kooperationen knüpfen, so Esterer.

KI-Lösungen für den Steuerbereich setzten unter anderem auf Chatbots bzw. Sprachmodelle wie das des Unternehmens OpenAI, berichtet Esterer. Er selbst habe sich sehr ausführlich zeigen lassen, wie schnell man die OpenAI-Software ChatGPT trainieren könne: „Es gibt viele Einsatzmöglichkeiten.“

Deloitte ist eher der Auffassung, dass KI in der Steuerberatung besonders für Sachverhalte geeignet sei, die in einheitlicher Struktur und großer Zahl aufträten. „Diese Kriterien treffen vor allem auf untergeordnete Routineaufgaben zu, die im Alltag vieler Steuerexperten als lästige Pflicht angesehen werden“, schreibt Andreas Kowallik, der Deloitte-Partner im Bereich Tax Technology Consulting ist, in einem Fachbeitrag über „KI in der Steuerberatung“. Indem diese Tätigkeiten von den Maschinen übernommen würden, könnten die Steuerexperten den Fokus auf komplexere Problemstellungen legen.

Die KI könne nicht nur einfache, repetitive Tätigkeiten übernehmen, hat dagegen Esterer festgestellt. Auch alle wissensbasierten Tätigkeiten könne teilweise die Maschine erledigen. Dies seien beispielsweise Vorbereitungsarbeiten für Gutachten, Stellungnahmen und Research. Insbesondere erste Entwürfe für diese Schriftstücke, die in der Praxis viele Arbeitsstunden beanspruchten und damit für Mandanten sehr teuer seien, werde die künstliche Intelligenz liefern: „Wir erleben eine Zeitenwende.“

Dies hat tiefgreifende Folgen für die Steuerberater. „Es werden sich die Geschäftsmodelle in unserer Branche ändern“, sagt Esterer. WTS gehe davon aus, dass damit perspektivisch auch die Abrechnungsmodalitäten für Beratungsleistungen neu gedacht werden müssen.

Ein wichtiger Hemmschuh sei noch, dass sich die juristischen Verlage in Deutschland diesem Thema nicht geöffnet hätten. „Aber das wird kommen müssen“, ist Esterer überzeugt. Denn die Verlage säßen auf jenem großen Datenschatz aus Steuerliteratur und Kommentierungen, der für das Trainieren der künstlichen Intelligenz per elektronischem Zugriff gebraucht werde: „Ich rechne mit Open-Source-Modellen für diese Daten.“

Für Unternehmen wäre es aber auch ein guter Einstieg, ihre steuerlichen Richtlinien mit generativer KI zu verknüpfen. So könne man einen mit KI ausgestalteten Wissenspool generieren, der die tagtäglichen Fragen beantworte wie beispielsweise, wie eine bestimmte Vertriebsveranstaltung lohnsteuerlich behandelt werden müsse.

Die ChatGPT-Antworten müssten anschließend qualitätsgesichert werden, betont Esterer. Darüber hinaus müssten die Mitarbeiter lernen, wie man seine Fragen richtig an ChatGPT stelle: „Am Ende haben Sie eine Qualität und Schnelligkeit, die es im Steuerbereich noch nie gegeben hat.“

Am beeindruckendsten aus Sicht von Esterer ist: „Man bekommt Zusammenfassungen von sehr schwierigen Fachtexten in einer Qualität, die unglaublich ist.“ Wenn man das Programm anweise, einen steuerlichen Artikel, den kaum ein Mensch verstehe, in fünf Sätzen zu formulieren, sei das Ergebnis verblüffend: „Es kommt eine Zusammenfassung heraus, die ein Steuerberater nicht besser machen könnte.“

Esterer ist überzeugt, dass die Steuerabteilungen angesichts von Digitalisierung und Automatisierung nicht mehr isoliert an der Steueroptimierung im Unternehmen arbeiten könnten, sondern sich ganz in die Finanzprozesse eingliedern müssten. Die Schlussfolgerung für die WTS-Geschäftsstrategie: „Wir bieten eine Prozessberatung an, die auf alle Finanzprozesse abzielt.“

Finanzämter schauen auf Prozesse

Was das konkret bedeutet? Alle größeren Firmen bräuchten zunehmend integrierte Tax-Reporting-Prozesse, die mittels Anbindung an das jeweilige ERP-System und dessen Vorsysteme schnittstellenfreie Prozessabläufe von der Datengewinnung innerhalb des Unternehmens bis zur Steuererklärung ermöglichten, sagt Esterer. Auch die Finanzämter hätten zunehmend die Qualität dieser Prozesse im Blick. Große Unternehmen würden in der Regel zwar weiterhin derartige Tax Reporting Systems selbst betreiben, benötigten aber Hilfe beim Implementieren.

Die Digitalisierung gibt seiner Gesellschaft aus Sicht von Esterer sogar Rückenwind: „Wir rechnen damit, dass unser Geschäftsmodell weiter international ausgerollt wird.“ Denn WTS werde nicht in jedem Land eine eigene größere Einheit aufbauen können. Mithilfe der digitalen Systeme könnten aber aus Deutschland heraus weltweite Prozesse in den Unternehmen eingeführt werden. Früher habe WTS sich auf Konzerne konzentriert: „Seit geraumer Zeit ist nun auch der internationalisierte Mittelstand als wichtige Zielgruppe hinzugekommen.“

Esterer hält daher trotz des wahrscheinlichen Siegeszuges von künstlicher Intelligenz an seinen Geschäftsplänen fest. Bis zum Geschäftsjahr 2024/2025 (30. Juni) solle der Umsatz auf mehr als 400 Mill. Euro steigen (vgl. BZ vom 29.9.2021). Im Jahr 2021/2022 wurden 203 Mill. Euro (plus 11%) erlöst. Im soeben abgelaufenen Turnus werde ein Umsatzanstieg um einen ebenfalls zweistelligen Prozentsatz erwartet, berichtet Esterer. Damit habe man den Steuerabteilungen der vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften erneut Marktanteile abgenommen.

Physiker in der Steuerberatung

In der Zukunft allerdings werde das Umsatz- und Mitarbeiterwachstum nicht wie in der Vergangenheit direkt gekoppelt sein, erklärt Esterer: „Wir werden langsamer bei den Mitarbeitern als bei dem Umsatz wachsen.“ Aktuell zählt WTS 1.500 Beschäftigte.

Einen Wachstumsschub verspricht er sich unverändert im Advisory-Bereich: „Wir gehen von 45 Mill. Euro in Richtung 100 Mill. Euro.“ Die Einheit WTS Digital sei ebenfalls sehr expansiv. Sie sei vor sieben Jahren mit einem halben Dutzend Personen gestartet, nun würden dort 270 Leute beschäftigt.

Ein Drittel des Umsatzes erwirtschafte WTS mit Unternehmen, die ihre Steuerabteilungen großteils auslagerten, sagt Esterer. Zu dem Kreis gehörten mittlerweile neben Siemens, Eon, Allianz und Traton unter anderem auch Siemens Energy und Siemens Healthineers. Die aktuelle Inflation sei aber trotz der guten Auftragslage durchaus ein Thema für WTS: „Wir müssen ständig die Produktivität erhöhen.“

Hilfreich sei, dass der Fachverlag Juve 2023 die WTS als Konzernsteuerabteilung des Jahres in den Bereichen Umsatzsteuern, Konzernsteuern und Finanzsteuern ausgezeichnet habe: „Das ist nochmals ein Riesenschritt.“ Trotzdem könne man das Ziel von 400 Mill. Euro allein mit organischem Wachstum nicht erreichen. Wenngleich Akquisitionen zuletzt an den Preisvorstellungen der Verkäufer gescheitert seien, seien weiterhin Übernahmen geplant: „Wir werden nicht davon ablassen.“

Angaben zu Profitabilitätszahlen legt WTS, die den Gewinn fast vollständig an die Mitarbeiter verteilt, nicht vor. „Es gelingt, die Rendite stabil zu halten“, sagt Esterer lediglich. Die größte Herausforderung sei, die IT-Kosten zu managen. Laut Bundesanzeiger verdiente die WTS Group AG im Jahr 2021/2022 mit Erlösen von 203 Mill. Euro ein Betriebsergebnis von 6,0 Mill. Euro.

Der KI-Einfluss werde die Qualifikation von Personal in den Steuerabteilungen grundlegend ändern, ist Esterer überzeugt. Während die Steuerfachexperten früher 90 bis 100% des Personals gestellt hätten, seien es aktuell nur noch 50%. Künftig sinke die Quote weiter und werde gleichgewichtig mit Technologie- und Prozessexperten sein. WTS stelle beispielsweise neben vielen IT-Experten mittlerweile auch Physiker oder Mathematiker ein, weil diese Prozess-Know-how besäßen. Esterer hält daher, wenngleich man auf Steuer-Know-how nicht verzichten könne, eine Umstellung der Ausbildung für notwendig: „Es gibt einen totalen Switch im Anforderungsprofil.“

Künstliche Intelligenz ist jedoch nicht die einzige Herausforderung für die Unternehmen. Als großes Projekt sieht WTS in den nächsten Jahren die Umstellung auf elektronische Rechnungen. Italien habe diese Umstellung innerhalb des Landes bereits komplett vollzogen, um Umsatzsteuerbetrug zu vermeiden. Frankreich folge 2024, Deutschland habe sich die Umstellung 2025 vorgenommen: „Die Automatisierung der Abläufe muss deutlich verbessert werden.“ Auch das europäische CO2-Grenzausgleichssystem, das in Teilen der Wirtschaft die Verlagerung von Treibhausgasemissionen in Nicht-EU-Länder verhindern soll, sei für die Unternehmen anspruchsvoll und erfordere häufig in den Zollabteilungen der Unternehmen prozessuale Unterstützung.

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Von Michael Flämig, München
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