Unterm Strich

Thank God for Germany

Eine international wettbewerbsfähige Industrie ist Voraussetzung für die Transformation der Wirtschaft, Digitalisierung und Klimaschutz.

Thank God for Germany

Während die deutschen Medien das Geschehen auf der bundespolitischen Bühne mit Schlagzeilen über Durchstechereien, rote Linien in den Sondierungsgesprächen und Machtkämpfe in den Unionsparteien begleiten, lohnt ein Blick auf die Wahrnehmung im Ausland: „Thank God for Germany“, begann dieser Tage Gideon Rachman, Chefkommentator der Financial Times für Außenpolitik, seine Analyse zur Lage Deutschlands nach der Bundestagswahl. Insbesondere der respektvolle Umgang der politischen Kontrahenten miteinander, die Demut des Wahlverlierers trotz eines knappen Ergebnisses und die Stärkung der politischen Mitte durch den Wahlbürger unterscheide die politische Kultur Deutschlands von den Verhältnissen in den anderen führenden westlichen Ländern wie USA, Großbritannien oder Frankreich. Weder habe die unterlegene Partei die Recht- und Ordnungsmäßigkeit der Wahl in Zweifel gezogen, noch hätten die politischen Kontrahenten sich gegenseitig als Gefahr für das Land denunziert. Und ein Führungsstil, wie er von Donald Trump und Boris Johnson gepflegt werde, habe in Deutschland auch unter dem möglichen Merkel-Nachfolger Olaf Scholz keine Chance, resümiert Rachman.

Mag sein, dass diese wohlwollende Sicht auf das heutige Deutschland mit dem Kontrastprogramm des einstigen Deutschland zu tun hat, das mit Krieg und Holocaust vielen Menschen im Ausland noch in wacher Erinnerung ist. Dass am deutschen Wesen niemand in der Welt mehr genesen soll, ist eine Lektion, die zumindest die politische Führung Deutschlands seit 70 Jahren verinnerlicht hat.

Freilich ist das Pendel – ebenfalls typisch deutsch? – etwas zu heftig in die andere Richtung geschwungen. Deutschland kranke heute am „urdeutschen Bescheidenheitssyndrom“, wie dieser Tage auf einer Veranstaltung des Industrieverbandes BDI beklagt wurde, und auf der Alt-Bundespräsident Joachim Gauck bedauerte, dass die Mehrzahl der Deutschen nicht daran zu glauben vermöge, was sie selber geschaffen haben: nämlich Freiheit und Wohlstand, basierend auf Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft.

Gefahr für die Demokratie

In der Tat haben Globalisierung, Digitalisierung und Klimapolitik gesellschaftliche Veränderungen aus­gelöst, die zur Gefahr für die repräsentative Demokratie werden können. Da sind die Querdenker in ihrer grundsätzlichen Ablehnung staatlicher Regelung nur die Spitze des Eisbergs. Vier von fünf Anhängern der AfD sind laut einer Umfrage der Brost-Stiftung vom Sommer dieses Jahres der Ansicht, die Regierung sollte parlamentarische Prozesse übergehen, um die Zuwanderung in den Griff zu bekommen. Und immerhin zwei Drittel der Grünen-Anhänger sind der Meinung, Maßnahmen zum Klimaschutz könnten auch am Parlament vorbei beschlossen werden.

An diesen Ergebnissen zeigt sich: Wenn die Menschen den Eindruck gewinnen, dass ihre Anliegen in einer bestehenden Ordnung kein Gehör mehr finden, erodiert die Akzeptanz dieser Ordnung. Und zwar unabhängig davon, ob dieser Eindruck objektiv falsch und Ausdruck von Intoleranz gegenüber Mehrheiten ist. Die sich in der Umfrage spiegelnde Demokratiemüdigkeit hat in der Corona-Krisenpolitik, die weitgehend ohne Einbindung der Parlamente erfolgte, ein schlechtes Vorbild gefunden. Wenn vermeintliches Expertenwissen an die Stelle parlamentarischer Entscheidungsprozesse tritt, wie bei den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, wird die repräsentative Demokratie ausgehöhlt. Gleiches gilt auch für andere kontroverse, gerne an Wissenschaft und unabhängige Institutionen übertragene Themen wie Geldpolitik oder Klimaschutz. Für all diese Themen gilt zudem, dass sie nicht auf nationaler Ebene erfolgreich zu organisieren sind, sondern supranationale Institutionen und Regeln benötigen. Dies vergrößert die Entfremdung zwischen Entscheidern und Betroffenen, fördert das Gefühl von Fremdbestimmung und bildet den Nährboden für politische Extreme.

Entscheiden statt Aussitzen

Deswegen muss es Aufgabe der neuen Regierung – vermutlich ja eine Ampel-Koalition – sein, demokratischen Prozessen wieder einen höheren Stellenwert zu geben, zumal die politische Spannweite der von der neuen Regierung repräsentierten Wähler eine sehr große sein wird. Die von Globalisierung, Digitalisierung und Klimaschutz getriebene wirtschaftliche und ökologische Transformation birgt die Gefahr der Spaltung der Gesellschaft in eine urbane Elite des Dienstleistungssektors und eine regional verwurzelte industrielle Mittelschicht. Dass die Verknüpfung von beidem zu Deutschlands Stärken zählt und die Transformation mehr Chance als Risiko darstellt, das sollte die Agenda der neuen Bundesregierung­ bestimmen. Die Kuschel-Sondierungen von Grünen, FDP und SPD sollten alsbald von klaren Botschaften über den Weg in die Zukunft abgelöst werden.

Es gehe um Inhalte, nicht um Personen, ist in diesen Tagen in Berlin zu hören. Deutschland braucht beides. Die Bundesregierung braucht Politiker, denen man die Durchsetzung der in Koalitionsverhandlungen vereinbarten Inhalte auch zutraut. Viel zu lange wurde in Deutschland Aussitzen und Nichtentscheiden als Ausdruck besonderer politischer Kunst verkauft.

Zu den Botschaften der neuen Regierung sollte gehören, dass die Transformation nur mit der Industrie und nicht gegen die Industrie gelingen wird. Eine international wettbewerbsfähige Industrie und ein Standort, der die dafür nötigen Rahmenbedingungen beispielsweise in der Steuerpolitik sichert, sind Voraussetzung, um erstens den Wohlstand zu erhalten, zweitens neue zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen und drittens die finanziellen Voraussetzungen zu legen, um die „Verlierer“ der Transformation kompensieren zu können. Eine wachstumsorientierte und innovationsfreundliche Wirtschaftspolitik ist damit Voraussetzung für eine erfolgreiche Klimapolitik und eine den Wandel unterstützende Sozialpolitik.

c.doering@boersen-zeitung.de