Touristen aus aller Welt überfluten Italien
Touristen aus aller Welt überfluten Italien
Auch große Hitze und überfüllte Städte und Strände stoppen die Besucher nicht
Von Gerhard Bläske, Mailand
Nach einem durchwachsenen Mai und Juni ist der Sommer jetzt da, in Italien. Vereinzelt werden mehr als 45 Grad gemessen. Dazu kommt eine enorme Schwüle. Die Züge ans Meer sind überfüllt. Auf den Autobahnen gibt es Megastaus von Wochenendausflüglern und Urlaubern. Verschlimmert wurde die Lage durch einen Bahnstreik am Donnerstag und einen Flugstreik am Samstag: Mehr als tausend Flüge wurden gestrichen.
Doch die Urlauber schreckt das alles nicht ab. Wie Heuschrecken sind sie ins Belpaese eingefallen. Mailand erlebte im Mai die meisten Touristenübernachtungen, die je verzeichnet wurden. In Neapel sind die Hotels ausgebucht und die Toskana rechnet in diesem Sommer mit mehr als zwölf Millionen ausländischen Be-
suchern.
Der Tourismus ist die große Konjunkturstütze des Landes. Bislang kamen die Impulse von den vielen Boni, die die Regierung für alles und jedes gab. Allein die Boni für die ökologische Sanierung von Gebäuden kosteten den Staat 130 Mrd. Euro, beflügelten aber die Bauwirtschaft. Das Auslaufen der Hilfen, verbunden mit der Konjunkturschwäche Deutschlands, des wichtigsten Handelspartners, der Blockade von Zahlungen aus dem europäischen Wiederaufbauprogramm sowie den hohen Zinsen, bremst die Wirtschaft. Nur der Tourismus boomt.
Deutsche, Schweizer, Österreicher, Franzosen und Niederländer strömen ins Land. Dazu kommen Briten und die kaufkräftigen Amerikaner, die zurückgekehrt sind. Und auch die Chinesen, die coronabedingt drei Jahre ausgeblieben sind, sind wieder da. Davon profitieren nicht nur Hotels, Vermieter von Wohnungen und Häusern, Restaurants, Bars und Strandbäder, sondern auch die Luxusboutiquen. Allein die Chinesen geben im Schnitt rund 1.400 Euro für Modeartikel etwa von Gucci, Prada oder Armani aus. Und auch für Amerikaner gehören die Käufe in Edelgeschäften zum Muss.
Die massiven Preiserhöhungen schrecken die Gäste nicht ab. Um 10 bis 15% sind die Kosten im Strandbad für die Miete von zwei Liegen und einem Sonnenschirm pro Tag gestiegen. 20 Euro gibt man dafür in Bibione an der Adria aus, 80 Euro in Gallipoli in Apulien, aber der Verbraucherverband Codacons registriert auch 120 Euro und mancherorts können es einige 100 Euro sein, die man hinblättern muss. Hotelzimmer kosten oft 30% mehr als im Vorjahr, sofern es Zimmer gibt. Die Ausgaben der Touristen liegen oft weit über Vor-Corona-Niveau. Da lässt es sich verschmerzen, dass Ukrainer und Russen, die besonders gern an die Adria gereist sind, fehlen. Der Tourismus trägt mehr als 10% zum Bruttoinlandsprodukt des Landes bei. In einigen Regionen ist der Anteil noch deutlich höher.
Doch allmählich wird auch über die Schattenseiten des Fremdenverkehrs diskutiert. Der „overtourism“ macht vielen Einheimischen zu schaffen, weil sie etwa in Venedig keinen normalen Supermarkt mehr finden und sich den Weg durch die Touristenmassen bahnen müssen. Im Wandergebiet Cinque Terre in Ligurien wurden auf einigen der oft schmalen Wege schon im April zeitweise Einbahnregelungen eingeführt.
Ein riesiges Problem ist auch der Personalmangel in Hotels, Restaurants und bei den Bademeistern, die oft miserabel bezahlt werden. Premierministerin Giorgia Meloni, die sonst so gern verbal Front gegen Flüchtlinge und Zuwanderer macht, hat den Forderungen der Wirtschaft nachgegeben und die Zuwanderungsquote für dieses Jahr um zwei Drittel auf 136.000 erhöht. In den kommenden beiden Jahren sollen jährlich sogar 165.000 Einwanderer kommen dürfen. Meloni reagierte damit auf die massive Abwanderung junger Italiener und den seit neun Jahren verzeichneten Bevölkerungsrückgang. Die erwerbstätige Bevölkerung sinkt auch wegen großzügiger Vorruhestandsregeln beständig.
Auch die schlechte Infrastruktur, der teilweise schlechte Zustand von Straßen und Schienen sowie die Zersiedelung machen dem Land zu schaffen. Jahrzehntelang wurde zu wenig investiert – in Verkehrswege, Wasserleitungen oder Internet-Verbindungen, aber auch in Hotels und Gästeeinrichtungen. Überdies ist die Saison kurz und es gibt bisweilen wenig Flexibilität. Obwohl viele Touristen da sind, öffnen Strandbäder oft erst im Juni und schließen im September, selbst wenn das Wetter zum Baden einlädt. Und morgens öffnen sie häufig erst um 9 Uhr und schließen manchmal schon um 19 Uhr. Spiagge
libere, frei zugängliche Strände, für die kein Eintritt zu zahlen sind, sind häufig schwer zu finden und bisweilen verdreckt.
Änderungen dauern. Selbst die offizielle Tourismuswerbung setzt fast ausschließlich auf die bekannten und überfüllten Regionen und Städte. Dabei verfügt Italien überall über attraktive Landschaften, Sehenswürdigkeiten und his-
torisch bedeutende Städte, die oft ver-waisen.
Dolce vita bei 40 Grad
Die Probleme und Schwächen könnten sich mittel- bis langfristig durchaus negativ bemerkbar machen, auch wenn Prognosen weitere Touristenwellen etwa aus China oder Indien erwarten lassen. Doch der bei über 40 Grad vor sich hin stinkende Müll in vielen Straßen Roms, Streiks in der Haupturlaubssaison und das Fehlen von Taxis haben nun sogar die Regierung in Alarmstimmung versetzt. Auf Intervention von Verkehrsminister Matteo Salvini wurde der Streik bei der Bahn verkürzt. Außerdem sollen mehr Taxi-Lizenzen vergeben werden. Doch der Widerstand gegen die Liberalisierung des Taximarktes ließ 2022 schon den damaligen Premierminister Mario Draghi einbrechen. Und die von der EU angemahnte Liberalisierung der Strandbäder lässt weiter auf sich warten. Noch stört das die Touristen nicht. Sie genießen das dolce vita selbst bei Temperaturen jenseits der 40 Grad. Aber so mancher wird angesichts der jüngsten Entwicklung womöglich darüber nachdenken, ob es nicht Alternativen gibt.