Warten auf Godot
Kapitalmarktunion
Warten auf Godot
Der Schlüssel zur Ver- tiefung des europäischen Kapitalmarkts liegt maßgeblich nicht in Brüssel, sondern in den nationalen Hauptstädten.
Von Detlef Fechtner
Als das Vorhaben der EU-Kapitalmarktunion vor gut einem Jahr revitalisiert und in „Spar- und Investitionsunion“ umgetauft wurde, keimten in Banken und Börsen sowie bei Investoren Hoffnungen auf, dass es nun doch rasch Fortschritte geben könne auf dem Weg hin zu einem Finanzbinnenmarkt. Doch längst ist – zumindest im Publikum – die Euphorie verflogen. Vielmehr ist Ernüchterung eingekehrt – die Sorge geht um, dass sich in den kommenden Monaten ähnlich wenig bewegen wird wie in den zehn Jahren nach den ersten Kapitalmarktunion-Ansagen von EU-Kommissar Jonathan Hill 2015. Viele Finanzprofis sehen sich nun in ihren Vorbehalten gegen die EU bestätigt und klagen über allenfalls schleppende Fortschritte. Vieles gehe nicht weit genug, vieles gehe zu langsam. Mancher fühlt sich wie bei Samuel Beckett: schier unendlich lange wartend auf das Angekündigte – und das noch dazu vergebens.
Ungeduld und Enttäuschung sind zwar nachvollziehbar. Der Unmut und die Unzufriedenheit signalisieren aber auch politische Naivität. Denn scheinbar gab es bei einigen Marktakteuren die Vorstellung, eine Kapitalmarkt-, Spar- oder Investmentunion könne wie ein jäher Befreiungsschlag wirken – und dafür sorgen, dass Sparer von jetzt auf gleich in Anleger konvertieren, um ihr Geld quasi barrierefrei in einem tiefen europäischen Markt zu investieren. Hand aufs Herz, das ist keine Semesterarbeit, sondern eine Jahrzehntaufgabe. Und vor diesem Hintergrund läuft manche unzufriedene Klage über die EU-Kommission ins Leere.
So lässt sich über die Kritik, die Vorschläge der EU-Kommission gingen nicht weit genug, trefflich streiten. Beispiel Verbriefungen: Forderungen nach vollständiger Abkehr vom Prinzip erhöhter Kapitalpuffer wegen des agency risk oder nach weitgehendem Verzicht auf Sorgfalts- und Transparenzpflichten hätten politisch wenig Aussicht auf Erfolg gehabt, immerhin brauchen die Gesetzesentwürfe ja den Segen von Rat und EU-Parlament. Und auch der Vorwurf, dass die EU-Kommission zu langsam sei, ist nur bedingt nachvollziehbar. Der Fahrplan für die Spar- und Investitionsunion ist zackig – und bislang hält ihn die EU-Behörde ein, von der Startup- und Scaleup-Initiative bis zur Novelle der EU-Verbriefungsregeln. Dass es in Europa trotzdem seine Zeit braucht, bis aus Vorhaben Gesetze werden, liegt in der Natur des Entscheidungsverfahrens und in der Achtung vor demokratischen Spielregeln.
Im Kontrast zu den zeitaufwändigen regulatorischen Änderungen sind aktuell Entwicklungen an den Märkten zu beobachten, die die Vertiefung der europäischen Kapitalmärkte durchaus zügig begünstigen. Da sind zum einen die Umschichtungen institutioneller Investoren von den USA in die EU – bislang vor allem eine Korrektur des Überinvestments jenseits des Atlantiks. Aber womöglich ist das der Start einer stärkeren Hinwendung des Kapitals nach Europa, das in Zeiten erratischer US-Politik als Stabilitätshort punkten kann. Da sind zum anderen die immer umfangreicheren Möglichkeiten, in europäische Safe Assets zu investieren, weil die Emissionen von EU-Kommission, EIB und ESM die Billionengrenze überschritten haben. Politisch mögen „Eurobonds“ noch tabu sein, an den Märkten werden längst Papiere gehandelt, die in diese Kategorie fallen.
Na klar, es gibt viele politische Schalthebel, um eine Vertiefung der europäischen Kapitalmärkte zu beschleunigen. Aber die meisten davon befinden sich nicht auf Ebene der Europäischen Union, sondern auf Ebene der Mitgliedstaaten. Für den entscheidenden Schub Richtung Kapitalmarktunion dürften letztlich zwei Maßnahmen sorgen: Zum einen die Harmonisierung der national unterschiedlichen Insolvenzregeln in Europa und die Einführung von steuerlich geförderten Produkten der Altersvorsorge. Der Schlüssel zur Umsetzung liegt in beiden Fällen maßgeblich in den nationalen Hauptstädten. Die Klage darüber, dass die Fortentwicklung des europäischen Kapitalmarkts nicht schneller vorankommt, muss deshalb nicht so sehr in Brüssel vorgetragen werden, sondern in Rom, Paris und Berlin.