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Wie Start-ups mit künstlicher Intelligenz für mehr Tierwohl sorgen

Geschlechtsbestimmung im Hühnerei, frühzeitige Erkennung von Schweinehusten oder automatisierte Vogelbeobachtung in Offshore-Windparks: Unternehmen nutzen die Fähigkeiten von künstlicher Intelligenz.

Wie Start-ups mit künstlicher Intelligenz für mehr Tierwohl sorgen

Wie Start-ups mit künstlicher Intelligenz für mehr Tierwohl sorgen

Ob sekundenschnelle Geschlechtsbestimmung im Hühnerei, frühzeitige Erkennung von Schweinehusten oder automatisierte Vogelbeobachtung in Offshore-Windparks: Unternehmen nutzen die Fähigkeiten von künstlicher Intelligenz nicht nur für die menschlichen Bedürfnisse, sondern immer häufiger auch zum Schutz der Fauna. Manchmal erhalten sie dafür sogar Millioneninvestments. 

Ob sekundenschnelle Geschlechtsbestimmung im Hühnerei, frühzeitige Erkennung von Schweinehusten oder automatisierte Vogelbeobachtung in Offshore-Windparks: Unternehmen nutzen die Fähigkeiten von künstlicher Intelligenz nicht nur für menschliche Bedürfnisse, sondern immer häufiger auch zum Schutz der Fauna. Manchmal erhalten sie dafür sogar Millioneninvestments. 

Von Karolin Rothbart, Frankfurt

Vielleicht hat es das junge Münchener Start-up Orbem auch deshalb vor kurzem in die internationalen Schlagzeilen geschafft, weil die Zeiten einfach gerade so düster sind. Wo täglich Nachrichten über Kriege, Klimawandel und andere Katastrophen auf die Menschen einprasseln, wirkt sich eine Mitteilung wie diese zur Abwechslung mal positiv aufs Gemüt aus: Das 2019 gegründete Unternehmen, das eine Technologie zur Verhinderung des industriellen Schredderns männlicher Hühnerküken entwickelt hat, ist von Investoren mit einer Finanzspritze von 30 Mill. Euro ausgestattet worden. Eine stattliche Summe für ein Unternehmen, das gerade mal über 50 Mitarbeitende verfügt.

Das routinemäßige Töten sogenannter Eintagsküken ist in Deutschland und Frankreich zwar mittlerweile gesetzlich verboten. In zahlreichen anderen Ländern gehört die Praxis aber weiterhin zum Brüterei-Alltag. Laut Orbem werden jedes Jahr schätzungsweise sieben Milliarden männliche Küken getötet, weil sie für die Geflügelindustrie keinen Nutzen haben.

Die drei Gründer Maria Laparidou, Pedro Gómez und Miguel Molina wollen den Tieren dieses Schicksal ersparen, indem sie sie gar nicht erst ausbrüten lassen. Stattdessen setzen die Unternehmer mit ihrer Technologie bei der frühzeitigen und kontaktlosen Erkennung des Geschlechts im Ei an – und zwar mithilfe von KI-gestützter MRT-Technologie.

Der Algorithmus als Radiologe

Die Magnetresonanztomografie ist eigentlich ein recht teures und langsames Bildgebungsverfahren und kommt daher bislang hauptsächlich in Krankenhäusern zum Einsatz. Indem bei Orbem künstliche Intelligenz die Rolle des Technikers und Radiologen übernimmt, soll der Prozess beschleunigt und für verschiedene Anwendungsfälle in der Lebensmittelindustrie nutzbar gemacht werden. So sei der Scan-Vorgang bei einem Ei mit der Orbem-Technologie in einer Sekunde abgeschlossen. Herkömmliche MRT-Scans würden dagegen zwischen 15 und 20 Minuten dauern.

"Wir stellen den Brütereien eine komplette Lösung einschließlich der benötigten Hard- und Software bereit", erklärt CEO Pedro Gómez das Geschäftsmodell. "Die Brütereien zahlen nur eine Gebühr pro Ei und müssen sich nicht um die Maschine kümmern. Für die gesamte Lösung wird nur ein Bediener benötigt."

Orbem ist nach eigenen Angaben seit dem ersten Quartal profitabel und hat zuletzt den deutschen Legehennenzüchter Lohmann als Kunden überzeugt. Im Oktober sind zudem im Rahmen der Finanzierungsrunde eine Reihe bekannter deutscher Investoren eingestiegen, darunter die Berliner Wagniskapitalgesellschaft La Famiglia, der Personio-Mitgründer Hanno Renner, der Ex-Zalando-CEO Rubin Ritter und Celonis-Mitgründer Bastian Nominacher.

Die Aufmerksamkeit für das Funding dürfte sicherlich auch mit der allgemeinen Faszination rund um künstliche Intelligenz zusammenhängen. Diese wurde im laufenden Jahr zwar hauptsächlich vom massenhaften Aufkommen generativer Anwendungen wie Chatbots, Bild- oder Video-Tools ausgelöst. Aber auch wenn KI nicht selbständig Inhalte erzeugt, sondern lediglich große Datenmengen mithilfe selbstlernender Algorithmen analysiert und Entscheidungen damit beschleunigt, ist ihr Disruptionspotenzial in der Wirtschaft kaum zu unterschätzen. 

In der ethischen Betrachtung kann das ganz unterschiedliche Folgen haben. Laut Studien könnten künftig Hunderte Millionen Jobs durch KI wegfallen. Kritiker warnen davor, dass sich Ungleichheiten in der Gesellschaft durch KI verfestigen. Seit Jahren wird zudem auf internationaler Ebene über den fragwürdigen Einsatz autonomer Waffensysteme diskutiert.

Auf der anderen Seite kann die Technologie aber auch ethisch wünschenswerte Veränderungen herbeiführen, die sich ohne ihren Einsatz oft einfach nicht rechnen – wie eben ein wirksamerer Schutz von Tieren, etwa in der Landwirtschaft.

Dem haben sich neben Orbem auch andere Start-ups verschrieben. Die belgische Firma Soundtalks hat beispielsweise ein KI-basiertes Überwachungssystem für Schweineställe entwickelt, das frühzeitig vor Atemwegserkrankungen bei den Tieren warnt. Die Überwachung findet rund um die Uhr via Monitore und Mikrofone statt und soll die täglichen Kontrollgänge der Landwirte so ergänzen. Ähnliche Lösungen zur durchgängigen und intelligenten Nutztierüberwachung bieten unter anderem das kanadische Start-up Onecup.AI, Vetvise aus Hannover oder Farmsee aus Israel, wobei das Monitoring bei diesen Firmen jeweils über spezielle Kamerasysteme erfolgt.

Immer mehr Tiere in den Ställen

Laut dem Veterinärmediziner Marc-Alexander Lieboldt von der Landwirtschaftskammer Niedersachsen können solche digitalen Assistenzsysteme zur automatisierten Tierbeobachtung einige Vorteile mit sich bringen. Ein wichtiger Aspekt liegt im natürlichen Verhalten der Tiere, das eine fundierte Einschätzung über deren Wohlbefinden manchmal erschwert: „Bei Anwesenheit des Tierhalters beziehungsweise der Stallmitarbeitenden verhalten sich Nutztiere zum Teil anders als bei deren Abwesenheit“, sagt Lieboldt. „Sie sind neugierig und konzentrieren sich auf den Menschen. Unerwünschte Verhaltensweisen oder schwache Krankheitsanzeichen sind in diesen Momenten unter Umständen nicht beobachtbar.“

Im Rahmen eines vom Bundeslandwirtschaftsministerium geförderten Verbundprojekts forscht Lieboldt derzeit an den Einsatzmöglichkeiten von bereits am Markt verfügbaren Sensorsystemen in der Schweinehaltung. Dabei geht es hauptsächlich um verschiedene Arten der Videobildanalyse mithilfe intelligenter Kamerasysteme, die nicht mehr nur die gesamte Körperhaltung eines jeden Tieres, sondern mittlerweile auch einzelne Körperpartien analysieren können. „Algorithmen sind bereits in der Lage zu erkennen, ob ein Schwanz geringelt ist oder ob er herabhängt“, beschreibt Lieboldt einen konkreten Anwendungsfall. „Ein geringelter Schwanz deutet darauf hin, dass es dem Schwein gut geht. Ein herabhängender Schwanz deutet auf Unwohlsein hin.“ Hier könnten die Systeme automatisch Alarm schlagen, wenn etwas nicht stimmt.

Aus Sicht des Experten können solche automatisierten Kontrollen auch aus anderen Gründen sinnvoll sein. Die Erwerbstätigenzahl in der deutschen Landwirtschaft geht seit Jahren zurück. Gleichzeitig steigen die Tierbestände in den Farmen immer weiter. Wo ein Schweinebetrieb in Deutschland im Jahr 2000 noch durchschnittlich 207 Tiere gehalten hat, waren es in diesem Jahr laut Statista schon 1.300 Tiere. Auch in der Milchviehhaltung und in der Geflügelindustrie hat die durchschnittliche Anzahl der Tiere in den vergangenen Jahren stark zugenommen.

„Die Bestandsgröße spielt bei der Entscheidung von Nutztierhaltern über digitale Assistenzsysteme generell eine wichtige Rolle“, sagt Lieboldt. „Natürlich stehen Hunderte Kühe in Milchviehbetrieben anders im Fokus als Tausende Schweine in Mastbetrieben oder Zehntausende Hähnchen in Geflügelmastbetrieben.“ Der Wissenschaftler glaubt, dass es daher in Zukunft vor allem dort ein großes Interesse geben könnte, wo Nutztiere in sehr großen Ställen gehalten werden, zum Beispiel in China oder in den USA.

Der Schweine-Hustendetektor von Soundtalks ist in diesen beiden Ländern jedenfalls schon auf dem Markt, im vergangenen Jahr wurde er zudem in Deutschland eingeführt. Laut dem Pharmakonzern Boehringer Ingelheim, der 2019 eine Beteiligung an dem Start-up erworben hat, machen immer mehr Betriebe von dem System Gebrauch. Die Zahl der erkrankten Tiere gehe bei den Kunden zugleich zurück, wodurch auch der Antibiotika-Einsatz sinke, wie eine Sprecherin erklärte.

Pet Tech lockt Investoren

Der Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Verbesserung von Tierwohl und Tiergesundheit beschränkt sich nicht allein auf die Landwirtschaft. Auch Haus- und Wildtiere profitieren von den technologischen Innovationen, an denen Start-ups weltweit feilen – und von den Investitionen, die ihnen dafür von Wagniskapitalinvestoren zufließen. So hat vor kurzem die südkoreanische Firma Petnow eine Geldspritze von gut 5 Mill. Dollar erhalten, um ihr Geschäft mit der KI-basierten Identifikation von Hunden und Katzen voranzutreiben. Konkret bietet das 2018 gegründete Start-up eine App, die die biometrischen Gesichtsmerkmale der Vierbeiner scannt, wodurch das Chippen perspektivisch entfallen soll. Seit Ende Februar ist die App auch in Deutschland verfügbar.

Start-up-Investoren scheinen in diesem Jahr generell ein Faible für tierische Mitbewohner zu haben. Laut dem Datendienst Pitchbook ist der Sektor für Haustiertechnologie trotz all der wirtschaftlichen Unsicherheiten auf bestem Wege, das weltweite Wagniskapitalvolumen im Vergleich zu 2022 noch zu übertreffen. Beobachter sehen einen Grund in der Corona-Pandemie, in der sich mehr Haushalte ein oder mehrere Haustiere zugelegt haben.

In der Agrartechnologie ist die Funding-Misere dagegen in diesem Jahr deutlich spürbar: Laut dem Datendienst Crunchbase und dem Online-Magazin "Croplife" sind die Finanzierungen in den ersten drei Quartalen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als die Hälfte auf 4,5 Mrd. Dollar eingebrochen. Im Subsektor Tiergesundheit sind die Investitionen dabei um etwa ein Drittel zurückgegangen.

Vogelschutz in der Windbranche

Besonders hoch im Kurs von Wagniskapitalinvestoren standen im dritten Quartal dagegen wieder Unternehmen, die mit ihren Technologien die Energiewende vorantreiben. Ein Vorhaben, das ebenfalls Auswirkungen auf die Tierwelt hat – die Start-ups wie Spoor AI wiederum zu minimieren versuchen. Die 2020 gegründete Firma aus Norwegen arbeitet derzeit an der Kommerzialisierung einer Software zur KI-gestützten Vogelbeobachtung in Offshore-Windparks. Ziel ist es, Kollisionen der Tiere mit den Anlagen zu vermeiden.

Autoren einer von Vattenfall finanzierten Studie wollen in diesem Jahr zwar herausgefunden haben, dass Seevögel den Rotorblättern von Windturbinen gezielt ausweichen. Die Schweden forschen aber weiter an dem Thema – unter anderem mit der Technologie von Spoor. Diese soll es Windparkbetreibern nicht nur ermöglichen, die Vögel aus der Ferne automatisiert zu beobachten und ihr Verhalten vorherzusagen. Perspektivisch sollen die Anlagen auch in der Lage sein, sich bei starkem Vogelflug von allein abzuschalten. Der dänische Energiekonzern Orsted ist vor einem Jahr eingestiegen.