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Zahlreiche Neuerungen in Bezug auf Insolvenz-Massenverfahren

Rund fünf Jahre nach dem Start der Musterfeststellungsklage tut sich in Bezug auf sogenannte Insolvenz-Massenverfahren gerade einiges – mit besonderen Auswirkungen für Kapitalmarkt- und Kriminalinsolvenzen.

Zahlreiche Neuerungen in Bezug auf Insolvenz-Massenverfahren

Zahlreiche Neuerungen bei
Insolvenz-Massenverfahren

BGH-Urteil hat besondere Auswirkungen für Kapitalmarkt- und Kriminalinsolvenzen

Von Andreas J. Baumert *)

Rund zehn Jahre nach ihrer Gründung und knapp dreieinhalb Jahre nach ihrem Insolvenzantrag sorgte die Bayerische Energieversorgungsgesellschaft (BEV) unlängst erneut für Schlagzeilen. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat anhand dieses Falls die Möglichkeiten von Musterfeststellungsklagen in sogenannten Insolvenz-Massenverfahren festgelegt. Massenverfahren sind Insolvenzen mit einer sehr großen Zahl an Gläubigern, und das Insolvenzverfahren der BEV gehört mit mehr als 300.000 Kunden-Gläubigern sicherlich in diese Kategorie.

Gegenstand der Musterfeststellungsklage im Fall BEV war die Anrechnung beziehungsweise Nichtanrechnung eines Neukundenbonus durch den Insolvenzverwalter. Dieser hatte – so der BGH in seiner Ausführung zum Sachverhalt – die Verträge von mehr als 100.000 BEV-Kunden abgerechnet, ohne dabei den Neukundenbonus zu berücksichtigen. Die Begründung: Die Mindestvertragslaufzeit von einem Jahr sei durch die Insolvenz nicht erreicht worden. Wie viele der betroffenen Kunden-Gläubiger der BEV sich der Musterfeststellungsklage des Verbraucherzentrale Bundesverbands angeschlossen hatten, ist nicht bekannt.

Insolvenzrechtlich zulässig

Seit Ende Juli ist allerdings bekannt, wie der Bundesgerichtshof in dieser Angelegenheit entschieden hat. Von einer Beschränkung der Mindestvertragslaufzeit durch eine Insolvenz habe ein durchschnittlicher Verbraucher nicht ausgehen können, befanden die Karlsruher Richter. Der Rabatt sei den Angaben nach ein im Rahmen der Jahresabrechnung abzusetzender Posten und seine Berücksichtigung sei insolvenzrechtlich zulässig.

Kurzum: Der Insolvenzverwalter hätte nach Auffassung des BGH den Neukundenbonus bei der Abrechnung der Verträge zugunsten der Kunden-Gläubiger anrechnen müssen. Der neunte Zivilsenat des BGH (Az. IX ZR 267/20) hat damit ein entsprechendes Urteil des Oberlandesgerichts München bestätigt und die Revision des Insolvenzverwalters von BEV zurückgewiesen.

In den Fußstapfen des Unternehmers

Der Fall BEV ist über die reine Entscheidung zur Abrechnung von Boniversprechen eines Energieversorgers hinaus von großer Bedeutung. Die Richter des neunten BGH-Senats haben festgestellt, dass nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Unternehmens gegen den Insolvenzverwalter eine Musterfeststellungsklage erhoben werden kann – und das unabhängig davon, ob das Unternehmen fortgeführt wird oder nicht. Ausgenommen sind allerdings Gläubigerforderungen, die vom Insolvenzverwalter nach Anmeldung zur Insolvenztabelle bestritten werden, hier ist jeweils einzeln durch den Gläubiger eine Forderungsfeststellungsklage zu erheben.

Der BGH hat mit seiner Entscheidung den Insolvenzverwalter mit einem Unternehmer bei der Musterfeststellungsklage gleichgesetzt. Der BGH geht demnach im Ergebnis von der Fußstapfentheorie aus. Diese Theorie besagt, dass ein Rechtsnachfolger – im Fall von BEV der Insolvenzverwalter – in die gesamte Rechtstellung des Vorgängers – in diesem Fall der BEV – eintritt.

Kriminal- und Kapitalmarktinsolvenzen als potenzielle Fälle

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass es nach dem aktuellen BGH-Urteil vermehrt Musterfeststellungsklagen gegen Insolvenzverwalter geben wird – gerade Kriminalinsolvenzen und Kapitalmarktinsolvenzen sind aufgrund der oftmals großen Zahl an Gläubigern potenzielle Fälle.

Zeigen lässt sich das anhand der Anleger-Kriminalinsolvenz des Wertpapierhandelsunternehmens Phoenix Kapitaldienst. In diesem Verfahren hat der Autor 2009 für den Insolvenzverwalter unter anderem die sogenannte Phoenix-Rechtsprechung prozessseitig durch die Instanzen bis zum BGH begleitet.

Bei Phoenix gab es rund 30.000 geschädigte Anleger und weitere Gläubiger. Die Wahrscheinlichkeit wäre groß, dass ein Verband in einem Fall wie Phoenix eine Musterfeststellungsklage zu bestimmten Punkten einreichen würde – etwa zur Klärung von sogenannten Aussonderungsansprüchen bezüglich der Einlagenzahlungen der Anleger, wenn diese vermengt mit anderen Geldern auf einem Bankkonto des insolventen Unternehmens liegen würden.

Vorteile für alle Beteiligten

Eine weitere Neuerung in Masseverfahren sind sogenannte kollektive Leistungsklagen (Abhilfeklagen), die qualifizierte Verbände wahrscheinlich bereits ab dem Herbst auf Basis des Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetzes (VRUG) erheben können. In Insolvenzverfahren geht es mitunter um eine Vielzahl an vergleichsweise kleinen Beträgen, die streitig sind.

Bei BEV belief sich der Neukunden-Bonus je Gläubiger zum Beispiel auf 100 bis 200 Euro. Wenn solche kleinen Streitwerte im Rahmen einer Musterfeststellungs- oder einer Leistungsklage zu einem großen Muster-Streitwert zusammengefasst werden, kann das prozessökonomisch durchaus sinnvoll sein.

Bei der Abhilfeklage als weitere Form der Verbandsklage könnten z. B. Aussonderungsklagen, die als Leistungsklage gebündelt werden können, in Betracht kommen. Nicht umfasst sind erneut einfache Zahlungsklagen nach Widerspruch gegen die Feststellung zur Tabelle. Hier ist die Rechtslage wie bei der Musterfeststellungsklage und der einzelne Gläubiger muss vorrangig Forderungsfeststellungsklage erheben.

*) Prof. Dr. Andreas J. Baumert ist Partner von Schultze & Braun.

Prof. Dr. Andreas J. Baumert ist Partner von Schultze & Braun.

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