Raiffeisen-Prozess

Ein Fall für die Berufung

Ein klares Urteil gegen den langjährigen Schweizer Bankchef Pierin Vincenz ist auf den ersten Blick gut – doch die Härte des Urteils wirft die Frage auf, inwiefern das Zürcher Bezirksgericht die Komplexität des Falls würdigte.

Ein Fall für die Berufung

Der größte Schweizer Wirtschaftsstrafprozess der vergangenen zwanzig Jahre hat am Mittwoch ein unerwartetes vorläufiges Ende gefunden. Am Ende eines achttägigen Prozesses hat das Zürcher Bezirksgericht im sogenannten Raiffeisen-Verfahren überraschend hart und klar geurteilt.

Pierin Vincenz, der langjährige CEO der drittgrößten Schweizer Bankengruppe Raiffeisen, und dessen früherer Geschäftspartner, der Zürcher Kleinfirmenberater Beat Stocker, sind des Betruges, der mehrfachen ungetreuen Geschäftsbesorgung, der privaten Bestechung und anderer Delikte für schuldig befunden worden und müssen dafür 45 Monate beziehungsweise 48 Monate ins Gefängnis. Gegen drei weitere Angeklagte ergingen ebenfalls Schuldsprüche wegen Privatbestechung und Beihilfe zum versuchten Betrug in geringerer Schwere.

Das Gericht sei den Anträgen der Staatsanwaltschaft „weitgehend gefolgt“, stellte ein Sprecher der Anklägerin zufrieden fest. Tatsächlich lässt die Klarheit des Urteils kaum Fragen offen. Das ist zunächst einmal gut so, denn schließlich ist es ist die Aufgabe jedes Gerichtes, Schuldige und Unschuldige deutlich zu benennen.

Die Schärfe des Urteils nährt aber auch den Verdacht, dass die erste Gerichtsinstanz einer em­pörten Öffentlichkeit etwas allzu sehr nach der Zunge geredet haben könnte. Vincenz, der lange Zeit die Auszeichnung des einzigen beliebten Bankers im Land für sich in Anspruch nehmen konnte, hat die Schweizerinnen und Schweizer schwer enttäuscht. Sein volksnahes Auftreten steht im Widerspruch zu seinen dreisten Ausschweifungen als Firmenchef, die das Gericht nun auch für kriminell befunden hat.

Doch der Raiffeisen-Fall ist von ungemeiner Komplexität, die schon allein im 500-seitigen Umfang des noch unveröffentlichten schriftlichen Urteils zum Ausdruck kommt. Diese Komplexität könnte in dem klaren Verdikt etwas untergegangen sein. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Zürcher Bezirksgericht der Versuchung erliegt, der Vox populi zu folgen.

Klar ist indessen, dass mindestens die Hauptbeschuldigten in die Berufung gehen werden. Das ist gut. So wird das Zürcher Obergericht die Gelegenheit erhalten, den Fall noch einmal aufzunehmen und unter eine schärfere Lupe zu legen. Denn denken wir daran: Fehlender Anstand und andere Persönlichkeitsdefizite sind nicht strafbar. Im Gegensatz zur Welt der Kinder gilt im Leben der mündigen Menschen immer noch: Was nicht verboten ist, ist erlaubt.

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