Space Oddities

Völlig losgelöste Start-ups

Die Raumfahrtbehörde Esa fördert mit eigenen Inkubationszentren Jungunternehmen, die mit Hilfe von Raumfahrttechnologien reüssieren wollen. Dabei muss der Weltallbezug in deren Produkten gar nicht auf den ersten Blick erkennbar sein.

Völlig losgelöste Start-ups

Franz Công Bùi, Frankfurt

Der Weltraum, unendliche Weiten… Wir schreiben das Jahr 2021. Das Thema Raumfahrt erfährt derzeit große Aufmerksamkeit. Projekte wie Space X, Virgin Galactic und Blue Origin – Steckenpferde von Milliardären wie Elon Musk, Richard Branson und Jeff Bezos, den Gründern von Tesla, Virgin und Amazon – sorgen für boomendes Interesse für kommerzielle Raumfahrtprojekte. Und die Wachstumsaussichten dieses Segments werden als enorm be­ziffert. Die US-Investmentbank Morgan Stanley erwartet, dass das Volumen der Weltraumwirtschaft bis 2040 von 395 Mrd. Dollar im laufenden Jahr auf über 1 Bill. Dollar wachsen wird.

Einen Teil dieses Kuchens wollen auch unzählige Jungunternehmen ergattern, die mit vielfältigen Ideen in den Startlöchern stehen oder teils die Startblöcke verlassen haben. Doch wie die meisten Neugründungen benötigen sie zum Start Unterstützung von Kapitalgebern wie Business Angels oder Start-up-Inkubatoren, um abheben zu können.

Für junge Firmen, die sich mit Weltalltechnologien befassen, hat die 1975 gegründete europäische Raumfahrtbehörde Esa (European Space Agency) vor fast zwei Dekaden ein Inkubatorennetzwerk ins Leben gerufen, die Esa Business Incubation Centres (Esa Bic). Hauptziel ist neben der Unterstützung von Gründern mit einer raumfahrtbasierten Geschäftsidee das Heranbilden von Clustern von raumfahrtbezogenen Start-ups in ganz Europa.

1115 Start-ups seit 2003

23 Esa-Bic-Zentren betreibt die Behörde in Europa, die sich auf 60 Standorte verteilen. Von dort wurden seit Juli 2003 1115 Start-ups unterstützt, davon 33% in den vier Bics in Deutschland (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Norddeutschland). In Hessen wurden bis Juli 2021 insgesamt über 130 Start-ups in das Förderprogramm aufgenommen, 44 sind derzeit in der Betreuung und 71 werden als Alumni geführt, wie Andreas Kanstein, Geschäftsführer der Cesah GmbH Centrum für Satellitennavigation Hessen, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung erläutert.

Die 2006 geschaffene und in Darmstadt operierende Cesah ist im Auftrag der Esa verantwortlich für das Esa Bic Hessen. Gesellschafter sind das Land Hessen, die Wissenschaftsstadt Darmstadt, die Technische Universität Darmstadt, die Hochschule Darmstadt, die Deutsche Telekom Business Solutions und die Telespazio Germany.

Von Darmstadt aus wird auch der Vertrag für das Esa Bic Baden-Württemberg verwaltet, welches von der IHK Reutlingen betrieben wird. Zudem unterhält die Gesellschaft zusammen mit der Eura AG, dem Esa Technology Broker Germany und dem ESpark Funding Projekte, um den Technologietransfer zu und von sowie zwischen etablierten Unternehmen zu fördern.

Die finanzielle Unterstützung der Esa wird hierbei verwaltet von der Deutschen Raumfahrtagentur im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), das die nationalen Interessen bei der Esa vertritt. Die Fördermittel für die Gründer kommen je zur Hälfte von der Esa und vom Land Hessen und werden durch das Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen verwaltet.

Die Bedeutung der Förderung von Start-ups durch die Esa für den Wirtschaftsstandort unterstreicht Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir: „Raumfahrttechnologien wie Satellitennavigation und Erdbeobachtung bieten ein enormes wirtschaftliches Potenzial. Hessen bemüht sich deshalb seit langem, Existenzgründer auf diesem Gebiet zu fördern. 2006 wurde auf Initiative des Landes und der Esa in Darmstadt das Centrum für Satellitennavigation Hessen gegründet, das inzwischen auch das Esa Bic für Hessen und Baden-Württemberg betreibt. Allein in Hessen wurden bislang über 130 junge Hightech-Unternehmen gefördert und weit über 500 hoch qualifizierte Arbeitsplätze geschaffen. Für uns ist das Esa Bic eine Erfolgsgeschichte, die wir fortsetzen wollen.“

Im Bestreben, Hessen zu einem bedeutenden Raumfahrtstandort zu entwickeln, beherbergt das Bundesland auch das europäische Raumflugkontrollzentrum Esoc und die europäische Organisation für die Nutzung meteorologischer Satelliten Eumetsat. Zudem gibt es weitere Initiativen wie etwa das Hessische Zentrum für künstliche Intelligenz (KI), Hessian.AI, das für die Förderung bei KI zuständig ist, eine Technologie, die Kanstein zufolge bei einer Mehrzahl der Gründer im Esa-Bic-Programm eine Rolle spielt.

Derzeit würden jährlich zehn neue Start-ups in das Programm aufgenommen, das typischerweise zwei Jahre andauere. Jedes Start-up erhalte eine Förderung von insgesamt 50000 Euro, das Budget dafür liege also bei 250000 Euro jährlich. Dazu kämen noch weitere Unterstützungsleistungen für die Jungunternehmen, insbesondere technische Beratung. Die Zahl der Start-ups, die jährlich gefördert werden, soll von 2022 an auf 20 verdoppelt werden.

Die Auswahl der geförderten Start-ups finde nach einem sehr strengen und formalen Verfahren statt, um möglichst gut bereits vor Förderbeginn die Spreu vom Weizen zu trennen und das Risiko einer Fehlinvestition zu minimieren. Das langfristige Ziel sei, dass lokal Unternehmen entstehen, die dann für Beschäftigung und Steueraufkommen sorgen, so dass somit die Ausgaben refinanziert werden. Die starke lokale Verankerung und die daraus resultierende Vernetzung mit der Industrie, den Universitäten, Forschungseinrichtungen, Regierungen und Investorengemeinschaften in unmittelbarer Umgebung ist ein wesentliches Merkmal der Esa Bics.

Start-ups, die für das Programm ausgewählt werden, wird neben den 50000 Euro Finanzierung einiges geboten: bis zu zwei Jahre Unternehmensinkubation mit technischer Unterstützung von führenden Experten in der Region und von der Esa, Unternehmenscoaching, rechtliche Beratung, Zugang zu den Netzwerken des Inkubators, Teilnahme an Workshops und Schulungen, Beratung und Möglichkeiten zur Mittelbeschaffung, Vermittlung zusätzlicher Finanzmittel und die Verwendung von Esa Bic oder Esa Space Solutions als Markenzeichen.

Im Fokus der Förderung stünden Firmen, die sich in einer sehr frühen Phase befinden und nicht älter als fünf Jahre alt sind. Mitunter sei es sogar so, dass nur eine Idee existiert, aber noch keine Firma. Und dann würden die Bewerber eine Gründung vornehmen, um in das Programm aufgenommen werden zu können.

Fokus auf Frühförderung

Dieser Fokus auf Frühförderung sei ebenfalls ein besonderes Merkmal der Esa-Inkubatoren, denn sehr viele andere Förderprogramme würden erst ansetzen, wenn es bereits ein fertiges Produkt gibt. Bei den Esa Bics sei es aber vor allem wichtig, die Start-ups durch die schwierige Phase zum ersten Produktprototyp hin zu begleiten.

Zu den wichtigsten Kriterien zähle zudem, dass das Start-up ein innovatives Produkt entwickelt, bei dem es entweder um ein „Spin-out“ aus oder ein „Spin-in“ in die Weltraumtechnologie geht. Von einem Spin-out wird gesprochen, wenn Unternehmen Raumfahrtdaten oder -technik für Anwendungen in anderen Industriezweigen entwickeln. Das seien dann sogenannte Downstream-Anwendungen, da Raumfahrttechnik oder -daten für Lösungen in anderen Wirtschaftsbereichen eine Rolle spielen, zum Beispiel im Agrar- oder Verkehrssektor. Satellitennavigation sei hierfür ebenso ein sehr prominentes und nach wie vor entwicklungsfähiges Beispiel. Nur in wenigen Fällen komme es zu einem Spin-in, also zu der umgekehrten Übertragung zu einer Raumfahrtanwendung hin.

Die Teilnehmer des Inkubationsprogramms würden auf jeden Fall auch über die zwei Jahre Laufzeit des Programms hinaus als Alumni begleitet. So bestehe der Auftrag von Esa Bic auch darin, Esa-Projekte an die Alumni heranzutragen. Und wenn anwendungsorientierte Technologieprojekte von der Esa ausgeschrieben werden, könnten sich die Start-ups dafür bewerben, mit Unterstützung durch Esa Bic.

Eine wichtige Rolle spielen zudem die Esa-Bic-Veranstaltungen, wie etwa die zum Teil mit Partnern organisierten Pitching-Events, um die Alumni mit Investoren zusammenzubringen. Oder aber auch die „Space Competitions“ genannten Wettbewerbe wie „Copernicus Masters“, „Galileo Masters“ und „Innospace Masters“. Hinzu kämen Veranstaltungen wie etwa „Global Navigation meets Geoinformation“ . Da würden etwa die regionalen Preisträger der „Galileo Masters“ oder „Copernicus Masters“ vorgestellt, und es gebe Fachvorträge zu Weltraumthemen. Und mindestens einmal im Jahr werde auch ein Hackathon wie kürzlich etwa der Climathon durchgeführt.

Ein bekanntes Beispiel für ein von der Esa unterstütztes Start-up ist Mynaric. Das 2009 gegründete und vom Esa Bic Bayern geförderte Unternehmen stellt Laserkommunikationsgeräte für Flugzeuge, Höhenplattformen und Satelliten her und nutzt hierfür Laser, um Daten sicher, drahtlos und schnell über weite Strecken zu übertragen. Das kann für den Aufbau vernetzter luftgestützter Breitbandsysteme genutzt werden, um etwa In-Flight-Verbindungen zu verbessern. 2017 war Mynaric an die Börse gegangen und hatte dabei 27 Mill. Euro aufgenommen.

Ein weiteres Unternehmen, das von der Partnerschaft mit der Esa profitierte, ist Lilium. Das 2015 gegründete Münchener Start-up entwickelt Elektrojets, deren Design auf einem vertikalen Start- und Landesystem mit festen Flügeln basiert und die als Lufttaxi eingesetzt werden sollen (siehe Foto). Im September war Lilium per Spac (Special Purpose Acquisition Vehicle) an die Nasdaq gegangen und hatte dabei 584 Mill. Dollar bei einer Bewertung von gut 2,8 Mrd. Euro eingesammelt.

Weltraum im Alltag

Auch jenseits des Luftverkehrs bieten Erfindungen für das Weltall Einsatzmöglichkeiten in vielen Wirtschafts- und Industriebereichen bis hin zur landwirtschaftlichen Nutzung. Ohne Raumfahrt gäbe es keinen Zugang zu wichtigen Informationen und Daten, wie etwa die genaue Uhrzeit, Wettervorhersagen oder Positionsbestimmung durch GPS-Signale von Navigationssatelliten. Und zunehmend wichtiger werden die Klimamodelle, die auf Basis von Daten aus der Raumfahrt entstehen.

Aber auch im alltäglichen Leben ist für den Weltraum entwickelte Technik zu finden. Beispiele dafür sind der Akkuschrauber, der ur­sprünglich für die Mondmissionen entwickelt wurde, oder die Befüllung von Chipstüten, bei der eine Technologie zum Einsatz kommt, die derjenigen nachempfunden ist, die Raumfähren den Eintritt in die Atmosphäre erlaubt, da das Verhalten einer Raumsonde bei der Landung Ähnlichkeiten mit einem Kartoffelchip hat, der in einer Tüte landet, ohne zu zerbrechen.

In der Regel gehe es bei Esa Bic jedoch gar nicht nur um die Raumfahrt an sich, sondern um die Nutzung von Ergebnissen aus der Raumfahrtforschung. Die Anwendung in der Raumfahrt sei eher ein seltenes Gebiet für die Start-ups, unterstreicht Kanstein. Beispiele für Jungunternehmen, die Anwendungen jenseits des Weltalls nutzen, seien etwa Solorrow, die eine mobile App für softwarebasierte Präzisionslandwirtschaft und teilflächenspezifische Düngung entwickelt hat, oder Pipepredict, die auf Grundlage von Erdbeobachtungsdaten und Satellitendiensten sowie mit Hilfe von KI Brüche und versteckte Leckagen bei unterirdischen oder schlecht zugänglichen Rohren etwa für die maritime Industrie aufspürt.

Und die Flinc AG hat eine appbasierte Mitfahrzentrale geschaffen, die sich an Mitarbeiter von Unternehmen richtet. Das Start-up wurde im September 2017 von der Mercedes-Benz AG übernommen. Und solche Übernahmen sind Kanstein zufolge die eher vorherrschende Form des Exits bei einem von Esa Bic geförderten Unternehmen. So wurde beispielsweise das Drohnen-Start-up MAVinci von Intel gekauft.

Space-Tech im Hintergrund

Und es gibt Beispiele, bei denen der Nutzer gar keine Raumfahrttechnologien im Hintergrund vermuten würde und die völlig losgelöst davon erscheinen, wie etwa das Start-up Werdenktwas, das Know-how für Bürgerbeteiligungsmodelle bietet und unter anderem ein bundesweites Portal für Anliegenmanagement, den Mängelmelder, betreibt. Dort können Bürger Anliegen hinterlegen, die dann zur Bearbeitung an die jeweils betroffene Gemeinde weitergeleitet werden. Eine Anfrage wird dabei mittels Satellitennavigation im Smartphone des Melders georeferenziert und kann somit der jeweiligen Kommune zugeordnet werden. Anschließend kann die Mängelbeseitigung entsprechend nachverfolgt werden und der Bearbeitungsstatus aller Anliegen im Web sowie in mobilen Apps eingesehen werden.

Und es sind, wie Kanstein betont, gerade auch solche Firmen, die dabei helfen, die Bedeutung der Raumfahrt für die regionale Wirtschaft zu stärken und die Kommerzialisierung der Raumfahrt voranzubringen.

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