30 JAHRE SCHWARZER MONTAG - DOKUMENTATION

"Die Verlockung scheinbar unablässiger Kurssteigerung"

Börsen-Zeitung, 19.10.2017 "Mit der ihm eigenen Brutalität hat der Markt an einem sonnig-warmen Indian-Summer-Tag (das war der 19. Oktober an der amerikanischen Ostküste: ein herbstlicher Bilderbuchtag; als Bilderbuchtag, allerdings im negativen...

"Die Verlockung scheinbar unablässiger Kurssteigerung"

“Mit der ihm eigenen Brutalität hat der Markt an einem sonnig-warmen Indian-Summer-Tag (das war der 19. Oktober an der amerikanischen Ostküste: ein herbstlicher Bilderbuchtag; als Bilderbuchtag, allerdings im negativen Sinne, wird er in die Börsengeschichte eingehen) – an jenem Tag hat der Markt brutal erzwungen, was die Politiker schon längst als eine weiche Landung hätten einleiten müssen. Erst unter dem verheerenden Eindruck des Kurs-Debakels hat sich Präsident Reagan mit dem Kongreß über ein Programm der Haushaltskürzung zusammengerauft, über ein Programm, dem wegen seiner Dringlichkeit zudem noch alle Zeichen der Improvisation anhaften. Aber da war eben das Kind schon in den Brunnen gefallen. Mitten im GeschehenIch hatte das journalistische Privileg, in der Woche vom 17. bis 24. Oktober 1987 in New York zu sein und die Tragödie aus der Nähe zu verfolgen. Ich habe, um Missverständnisse zu vermeiden, den Crash natürlich nicht im Versandhauskatalog bestellt. Aber diese unmittelbare Präsenz hat mir dankenswerterweise nicht nur einen unvergesslichen Anschauungsunterricht darüber gegeben, mit welch nüchterner Professionalität sich die Amerikaner sogleich auf die Brisanz der neuen Situation eingestellt haben und wie emotionslos sie die wahrscheinlichen Folgen der tektonischen Verschiebungen zu analysieren angefangen haben.Umgekehrt hat der Aufenthalt in New York bei mir auch bewirkt, dass ich in keinem Moment der Versuchung erlegen bin, die Bedeutung dieses Umbruchs zu unterschätzen. Seine Bedeutung liegt weniger im absoluten Schadensumfang als im Abrupten des Wechsels, in dem Inflationsängste, Hochzinsbefürchtungen und düstere Wechselkursahnungen eine explosive Mischung eingegangen waren und – stimuliert noch durch unbedachte Politikeräußerungen – die Lawine ins Rollen brachten.Die Fassungslosigkeit darüber, wie es möglich war, dass der Dow Jones an einem einzigen Tag um 508 Punkte in den Keller stürzte, kennzeichnet die wahre Dramatik des Geschehens. Zum Vergleich: An elf Börsentagen im Oktober des Jahres 1929 sank der Dow Jones um knapp 100 Punkte. Das tat er noch einmal im Jahre 1978, bezeichnenderweise wieder im Oktober unter dem amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter bei einem Diskontsatz von 9,5 % (heute 6 %) und einem damaligen Dollar-Tief von 1,72 DM. Diesmal also waren es 508 Punkte oder 22,6 % an einem einzigen Tag. Ein bis dahin stillschweigend akzeptierter Konsens ist daran zerbrochen: Der Glaube an die analytische Transparenz der Dinge zumindest insoweit, dass sich wenigstens panikartige Reaktionen, wie sie von 1929 her überliefert sind, fortan vermeiden ließen. Wie die LemmingeDie Wirklichkeit ist leider eine andere: Die transkontinentale Gleichzeitigkeit der Informationen initiiert, beinahe automatisch, eine weltweit konformistische Handlungsweise, die durch die – sozusagen eingebauten – Mechanismen der Computersteuerung noch verstärkt wird. Diese Erfahrung wird ihre psychologische Langzeitwirkung haben. Sie bietet andererseits aber auch die Möglichkeit zur Schaffung zeitgemäßer Sicherungssysteme und zur rechtzeitigen Eingrenzung finanzinnovativer Wucherungen.Dass Computerunterstützung heute zum alltäglichen Handwerkszeug qualifizierter Wertpapieranalysten gehört, sei unumstritten, sagte Dr. Walter Seipp, der Vorstandsvorsitzende der Commerzbank, neulich in Karlsruhe. Genau so wichtig sei aber, dass die eigentliche Entscheidung nicht an die Maschine delegiert werde, sondern in der Souveränität des verantwortlichen Menschen verbleibe. Es gäbe dann sowohl richtige als auch falsche Entscheidungen, wie sie für das Auf und Ab des Kursgeschehens kennzeichnend sind. Aber die Gefahr einer Kettenreaktion, ein Verhalten wie die Lemminge, lasse sich dadurch weitgehend ausschließen, meinte Dr. Seipp.Freilich geht es hier nur um die Beseitigung von Auswüchsen, nicht um Eliminierung der Risiken an sich, die mit jeder Aktienanlage verknüpft sind. Ein altes Wall-Street-Axiom lautet:- The bulls make money- The bears make money- But the pigs get slaughtered Parallelen zu 1929In dieser Psychologie liegen aber auch Parallelen zu 1929. Rein äußerlich ist die Situation gewiss nicht vergleichbar. Wir haben eine bessere Methodik der Datenerfassung, feinere Abwehrinstrumente und hoch entwickelte Kommunikations- und Informationsnetze. Nicht verändert aber hat sich der Mensch. Damals wie heute hat die Jagd nach schnellem Reichtum den Blick auf die Realitäten verstellt.Damals wie heute war die Droge des Wohlstandsrausches in analytische Empfehlungen eingepackt. Damals wie heute war die Verlockung scheinbar unablässiger Kurssteigerungen übermächtig – es gab genug Stimmen, die dem Dow Jones den baldigen Durchbruch über die Marke von 3 000 hinaus voraussagten, nachdem er – das macht diese Prognose erst so schön plastisch – im Jahre 1974 mit 580 seinen Tiefstpunkt verzeichnet hatte.”—-Auszug aus einem Vortrag von Hans K. Herdt, gehalten im Januar 1988 bei der Hamburger Bank von 1861 Volksbank eG. —-Hans K. Herdt, Chefredakteur der Börsen-Zeitung von 1986 – 2000