EZB

Höhere Schulden nur bei niedrigen Zinsen

Sollten sich 2022 weitere Inflationserwartungen aufbauen, könnte es sein, dass die EZB gegensteuern muss. Dann wäre es auch mit den bisherigen Schuldentragfähigkeitsüberlegungen vorbei.

Höhere Schulden nur bei niedrigen Zinsen

Von Ulrich Kater*)

Auch eineinhalb Jahre nach Beginn der Covid-19-Krise nehmen die Ratingagenturen ihre Einschätzungen zu Forderungsausfällen weiter zurück. Angesichts der vielen immer noch in Betrieb befindlichen staatlichen Unterstützungsprogramme für Unternehmen und private Haushalte mag ein allgemeines Aufatmen vielleicht verfrüht sein, jedoch kann schon einmal festgehalten werden, dass die große Abwärtsspirale aus Kreditausfällen und Kreditbeschränkungen vermieden werden konnte. Mit Blick auf die nächsten Jahre stellt sich aber schon die Frage, wie es um die Bonität der Unternehmen bestellt ist. Bei den Staatshaushalten wurde be­reits vor dem Ausbruch der Pandemie eine bedenkliche Verschuldung beklagt, vor der die Entwicklung im Unternehmenssektor regelmäßig verblasste.

Dabei hat sich auch die Verschuldung im Unternehmenssektor in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich erhöht. In den Industrieländern stieg sie im Durchschnitt über alle Länder von 75% in Relation zum aggregierten Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2000 auf 100% zu Beginn dieses Jahres an, in den Schwellenländern stieg die Quote von 63 auf 101% ähnlich stark an. Diese Zahlen werden sich im Zuge der weiteren Wirtschaftserholung wieder etwas nach unten korrigieren, trotzdem bleibt der Anstieg der Unternehmensverschuldung ausgeprägt. Er hat auch relativ stetig über die vergangenen 20 Jahre hinweg stattgefunden und war nicht etwa ein Krisenphä­nomen. Der deutsche Unternehmenssektor befindet sich gegenwärtig mit 74% klar im unteren Bereich der internationalen Schuldenskala.

Spreads engen sich ein

In den Kursdaten der Anleihemärkte spiegelt sich diese enorme Zunahme von Fremdfinanzierung auf den ersten Blick nicht wider. Der Risikoaufschlag von AAA-US-Corporates hat sich seit Beginn der 2000er Jahre von 80 Basispunkten (BP) ausgehend prinzipiell seitwärts bewegt, unterbrochen von einem sehr großen Ausschlag während der Finanzkrise und einem weit weniger dramatischen anlässlich der Coronakrise im vergangenen Jahr. Gegenwärtig liegt der Spread sogar mit etwa 40 BP unterhalb der auch in den USA schuldenfreieren Zeit vor 20 Jahren. Ein ähnlicher Rückgang ist bei niedrigeren Bonitäten zu beobachten, etwa bei BBB-benoteten Anleihen von rund 150 BP Anfang 2000 zu 110 BP heute. Ganz besonders dramatisch erscheint der  Rückgang  im High-Yield-Bereich, in dem vor zwei Jahrzehnten noch fast 14 Prozentpunkte Überrendite über Staatsanleihen gezahlt wurden. Heute sind es nur noch 6,5 Prozentpunkte. Die Ergebnisse für europäische Corporates lauten ähnlich, und auch der Spread für Emerging-Markets-Anleihen bester Bonität in Dollar ist heute mit etwa einem Prozentpunkt ein Drittel geringer als seinerzeit.

Nun orientieren sich Risikoprämien wie auch Ratingeinstufungen unter anderem an den Ausfallraten, und wenn sich diese trotz erhöhter Verschuldung in den vergangenen Jahren nicht systematisch verändert hätten, gäbe es auch keinen Anlass für eine Neubepreisung. Dies ist in der Tat der Fall. Die Defaultrate im globalen Anleiheuniversum aller Bonitäten lag im Jahr 2000 bei etwa 2,5%, und selbst im Coronajahr 2020 waren es lediglich 2,8%. Dazwischen gab es Schwankungen mit Raten von mehr als 4% im Finanzkrisenjahr 2009, jedoch keinen systematischen Trend. Auch in den unterschiedlichen Bonitätsklassen gibt es keinen abweichenden Befund.

Ein wesentlicher Grund hierfür liegt in einer Entwicklung, die auch bei der Staatsverschuldung gegenwärtig Anlass für eine Diskussion um die Tragfähigkeit und Grenzen ausgelöst hat. Es ist das niedrige Zinsniveau, mittels dessen heute deutlich höhere Verschuldungsniveaus zu bewältigen sind. So ist für den US-Unternehmenssektor die Schuldendienstquote, also die Zinszahlungen plus Amortisation in Relation zum Einkommen, seit dem Jahr 2000 mit 46,7% nahezu konstant geblieben, obwohl sich die Schuldenquote von 63 auf 81% erhöht hat. In Belgien stieg sie nur um 6,7 Prozentpunkte an, obwohl sich die Schuldenlast der Unternehmen um das 1,7-Fache erhöhte.

In einigen Industrieländern wie Deutschland, den Niederlanden oder Südkorea ist die Belastung des Unternehmenssektors durch den Schuldendienst in den zurückliegenden 20 Jahren relativ betrachtet sogar gesunken. Mag es auch unter den bonitätsschwächeren Unternehmen mitunter bedenkliche Ausnahmen geben, muss man doch für den gesamten Unternehmenssektor feststellen, was auch für Staatsanleihen gilt: Solange das Zinsniveau derartig niedrig ist, ist die Tragfähigkeit der Schuldenlasten gegeben und die Bewertungen der Anleihen sind gerechtfertigt.

Eingriff der Zentralbanken

In den Bondpreisen spiegeln sich neben dem Ausfallrisiko noch weitere Risikoprämien wider, etwa für das Liquiditätsrisiko, das Inflationsrisiko oder das Zinsänderungsrisiko. Alle diese Faktoren bis auf einen wurden in der Vergangenheit sehr stark durch das Eingreifen der Notenbanken im Rahmen ihrer Anleihekaufprogramme reduziert. Im Euroraum liegen etwa 15% aller ausstehenden Unternehmensanleihen auf der Bilanz der Zentralbank. Ein Beispiel für die Wirkungen der EZB-Käufe bietet etwa Italien. Während sich dort die Anleihespreads im Jahr 2018 wegen der Wahl- und Haushaltsdebatte sowie selbst noch in der Coronakrise deutlich schlechter entwickelt haben als der iTraxx und auch der Crossover, wurden durch die Käufe im Rahmen des PEPP-Programms die Renditeunterschiede italienischer Anleihen wie auch Bonds aus anderen europäischen Peripherieländern zu Bunds fast vollständig ausradiert.

Die einzige Störung in dieser schönen neuen Verschuldungswelt kann nur durch das Inflationsrisiko auftreten. Anders als die anderen Anleiherisiken wird es durch niedrige Zinsen und Kaufprogramme von Notenbanken nicht gemindert, sondern erhöht. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass der Übergangscharakter der gegenwärtigen hohen Inflationszahlen diesseits und jenseits des Atlantiks nicht ganz so ausgeprägt sein wird, wie die Notenbanken das bislang beschrieben haben. Im Euroraum etwa wird wohl über den Basiseffekt zum nächsten Jahreswechsel hinaus mindestens für einige weitere Monate die Inflationsrate über 2% liegen.

Steigen die Risiken?

Die EZB wird dies ignorieren und mit ihren Zinssätzen weiterhin ultraniedrig bleiben, denn tief negative Realzinsen erscheinen ihr der wirtschaftlichen Lage angemessen. Ob aber auch der Kapitalmarkt diese Entwicklung ignoriert, hat sie nicht im Griff, es sei denn, sie erhöht den Interventionsgrad am Anleihemarkt. Sollten sich im Verlauf von 2022 weitere Inflationserwartungen aufbauen, so ist die EZB eventuell sogar gezwungen, mit dem Leitzins gegenzusteuern. Dann wäre es mit dem extremen Niedrigzinsniveau und damit auch mit den Schuldentragfähigkeitsüberlegungen vorbei. Und dann könnte sich zeigen, dass mit höherer Verschuldung die Risiken doch gestiegen sind; sie wurden nur weniger bezahlt.

*) Ulrich Kater ist Chefvolkswirt der DekaBank.