Kursverfall

Türkische Lira mitten im perfekten Sturm

Die Kursentwicklung der türkischen Lira war im vergangenen Jahr desaströs. Dies liegt vor allem an der Geldpolitik der von der Regierung Erdogan beeinflusste Notenbank. Besserung ist nicht in Sicht.

Türkische Lira mitten im perfekten Sturm

Von Thomas Meißner*)

Das Jahr 2021 zeigte am Devisenmarkt eine sehr prononcierte Entwicklung. Die 17 vom LBBW Research gecoverten Fremdwährungen als Maßstab genommen, verlor der Euro im vergangenen Jahr per saldo gegenüber elf von ihnen. Geradezu katastrophal aber gestaltete sich der Wertverlust der türkischen Landeswährung. Gegenüber dem Euro büßte der Außenwert der Lira 2021 mehr als 40% ein. Hatte deren Austauschverhältnis zum Euro das Jahr bei 9,11 Lira je Dollar begonnen, fand es sich zum Jahresende bei 15,23 Lira wieder. Mitte Dezember war kurzzeitig sogar die Marke von 20 Lira überschritten worden.

Eine im Trend abwertende Lira ist beileibe kein neues Phänomen. Wir erinnern uns: Recep Tayyip Erdogan, heutiger Staatspräsident der Türkei, begann seinen politischen Aufstieg just in einer Zeit wiederholt drohender Zahlungsbilanzkrisen. Speziell im Jahrzehnt zwischen 1995 und 2005 zählte die Lira zu den am wenigsten wertstabilen Währungen weltweit. Vor diesem Hintergrund verbinden sich die Anfangsjahre der Ägide Erdogan, ab 2003 zunächst Ministerpräsident, für viele in der Türkei mit Erinnerungen an eine zunehmende makroökonomische Stabilität. Das akute Problem besteht darin, dass im unmittelbar zurückliegenden halben Jahrzehnt die Phasen einer derartigen, zumindest relativen, Stabilität für die Türkei sehr rar waren. Stattdessen beschleunigte sich am Devisenmarkt die nominale Abwertung der türkischen Landeswährung zuletzt immer mehr.

Parallel zum Wertverlust der Lira am Devisenmarkt zog innerhalb der Türkei die Inflation zuletzt merklich an. Für den vergangenen Dezember wurde für die Verbraucherstufe eine Geldentwertung von gut 36% im Jahresvergleich gemeldet: ein neuer Rekord für die Zeit zurück bis 2002. Für die Produzentenpreise wurden knapp 80% gemeldet! Das Problem hierbei: Die Erdogan-Administration ist nicht gewillt, die Ursachen der Misere anzugehen. Insbesondere wird nicht akzeptiert, dass es der Lira im Außenverhältnis an Attraktivität mangelt, sofern die Zinsen auf Lira-Aktiva nur unzureichend hoch angesetzt werden. An dieser Stelle liegt so ziemlich alles im Argen. Zwischen Sommer 2019 und Sommer 2020 nahm die türkische Zentralbank ihren Hauptleitzins in mehreren Schritten von 24% auf 8,25% zurück. In derselben Zeit ermäßigte sich die Inflationsrate von Werten um die 20% auf knapp unter 12%. Im Ergebnis verkehrte sich ein positiver realer Leitzins in einen negativen. Und: Seither hat sich die Diskrepanz immens vergrößert! Während die Inflationsrate jüngst beständig neue zyklische Höhen erklomm, senkte die Notenbank ihren Leitzins neuerlich ab, von 19% per Sommer 2021 auf aktuell 14%.

Staatspräsident Erdogan begründete den geldpolitischen Kurs in der Türkei zunächst damit, dass, wie er es formulierte, niedrige Leitzinsen einen Rückgang der Inflation befördern würden. In jüngster Zeit ergänzte er dies mit dem religiösen Argument, im Islam sei es verboten, Zinsen zu nehmen. Offensichtlich sind diese Überlegungen selbst innerhalb der Staatsführung der Türkei nicht unwidersprochen geblieben. Entsprechend wechselte Erdogan in den zurückliegenden Jahren mehrfach das Spitzenpersonal der türkischen Wirtschaftspolitik aus, so der Notenbank und des Finanzministeriums. Für den Moment scheinen alle entscheidenden Figuren auf Kurs gebracht. So begründet der nunmehrige Finanzminister Nebati die Makropolitik der Türkei mit einem „eigenen Weg“ der Regierung am Bosporus und mit einer Absage an sogenannte „orthodoxe“ Politikmaßnahmen. Sehr bemerkenswert: Den jüngsten Abwärtsschritt des Haupt-Repo-Zinses der Notenbank machte deren Zins für Übernacht-Ausleihungen an die Geschäftsbanken nicht mit. Im Gegenteil wurde dieser Satz um einen Prozentpunkt erhöht, auf sein unmittelbar vorheriges Niveau von 17,5%. Offensichtlich wird in Ankara doch, zumindest partiell, an die Macht höherer Zinsen geglaubt.

Vor dem Hintergrund der immensen makroökonomischen Instabilität, die mit niedrigen Zinsen und hohen Teuerungsraten einhergeht, verblassen die kleinen „Erfolge“ der türkischen Wirtschaftspolitik. Die Exporte der Türkei legten zwar am aktuellen Rand zu, aber nicht so stark, um die Handelsbilanz ins Plus zu drücken, da die Importe stärker anzogen. Die Arbeitslosigkeit verminderte sich nach der Corona-Rezession zwar wieder. Derweil mögen sich zwar die Devisenreserven erholt haben; hier bleibt die Situation aber fragil.

Vernichtendes Urteil

Vernichtend fällt das Urteil der türkischen Bevölkerung über die verfahrene Lage in ihrem Land aus. Das Verbrauchervertrauen fiel per Dezember auf das niedrigste Niveau seit Beginn der Erhebung dieser Datenreihe im Jahre 2004. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Glaubwürdigkeit der gesamten politischen Ordnung des Landes. Derweil kämpft Präsident Erdogan um sein politisches Überleben. Unter anderem gab er zuletzt, wie er sich ausdrückte, eine „Garantie“ auf Einlagen in Lira bei den Geschäftsbanken in der Türkei. Der offizielle Einstieg in ein staatliches System der Devisenbewirtschaftung ist nicht mehr fern. Auch dies wird die Lira kaum davon abhalten, neue Tiefstände am Devisenmarkt auszuloten. Vonnöten ist ein wirksamer Ansatz der Makrosteuerung am Bosporus.

*) Thomas Meißner leitet in der Landesbank­ Baden-Württemberg (LBBW) die Abteilung für Makro- und Strategy-Research.