EU-Parlament

Alles schläft, einsam wacht

Die Aufarbeitung des aktuellen Korruptionsskandals im Europäischen Parlament darf sich nicht in der Ermittlung und Bestrafung individuellen Fehlverhaltens erschöpfen. Es geht vielmehr darum, die richtigen Schlüsse für die Arbeitsweisen des EU-Parlaments zu ziehen, damit das Vertrauen der Bürger nicht weiter erodiert.

Alles schläft, einsam wacht

­Gewiss, es ist ganz sicher nicht der erste Skandal im EU-Parlament. Auch in früheren Legislaturperioden gab es Europaabgeordnete, die bereit waren, sich bestechen zu lassen. Legendär etwa eine Versteckte-Kamera-Recherche einer britischen Zeitung, deren Redakteure filmten, wie sich Parlamentarier auf die Offerten fingierter Lobbyisten einließen. Die Abgeordneten erklärten sich seinerzeit bereit, im Gegenzug für großzügige Beraterverträge für bestimmte Änderungsanträge zu stimmen.

Und doch: Der Korruptionsprozess, der das Europäische Parlament aktuell erschüttert, ist von einer noch viel dramatischeren Dimension. Erstens, weil es sich nicht nur um Hinterbänkler handelt, sondern mit Eva Kaili um eine Vertreterin des Präsidiums. Auch wenn es im Parlament eine ganze Menge Vizepräsidenten gibt, nämlich 14, so sind sie doch in besonderer Weise exponiert, etwa als Sitzungsleiter.

Zweitens ist erschreckend, wie dreist die Beteiligten vorgingen. Die Berichte über „Säcke von Geld“, die in der Wohnung Kailis gelagert wurden, sprechen für eine besondere Abgeschmacktheit und kriminelle Energie. Drittens schließlich – und dies gibt in ganz besonderer Weise zu denken – entstammt das Geld nach derzeitiger Verdachtslage nicht der Kasse eines Unternehmens, das sich durch bestimmte regulatorische Anpassungen Wettbewerbsvorteile erhofft. Vielmehr verdächtigen die Ermittler Regierungen von Katar oder Marokko des Versuchs, mit unlauteren Mitteln auf Entscheidungen des Parlaments Einfluss zu nehmen. Das ist starker Tobak.

Natürlich muss nun erst einmal der Gang der Ermittlungen abgewartet werden, um mehr Klarheit darüber zu haben, was geschehen ist. Aber bereits jetzt stellen sich drei Warum-Fragen. Warum ist es fremden Regierungen viel Geld und ein erhebliches Risiko, bei ihrem Tun entdeckt zu werden, wert, einzelne Abgeordnete zu bestechen? Warum sind die Wohlverhaltensvorgaben und Meldepflichten für EU-Parlamentarier lockerer als etwa für EU-Kommissare? Und warum hat niemand im Parlament, in der Fraktion und in der Öffentlichkeit registriert, dass Kaili sich in bemerkenswerter Form für Katar ins Zeug warf? Wer sich heute Mitschnitte der Sitzungen anhört, in denen die griechische Sozialistin Katar als „Vorreiter bei Arbeiterrechten“ lobt, kommt jedenfalls ins Grübeln. Hat da seinerzeit überhaupt jemand zugehört? Die Videos von Parlamentssitzungen erinnern fast automatisch an eine berühmte weihnachtliche Gesangszeile: „Alles schläft, einsam wacht.“

Die drei genannten Fragen provozieren es geradezu, mehrere Arbeitsweisen des EU-Parlaments infrage zu stellen. So unterliegt das EU-Parlament in seinen Arbeitsstrukturen weit weniger dem Fraktionszwang als andere Parlamente, was die Macht des einzelnen Abgeordneten erhöht, Änderungen in Gesetzestexten zu beantragen – zum Teil gegen die Mehrheitsmeinung der eigenen Partei. Das mag den einzelnen Parlamentarier stärken, bietet aber auch dem Lobbyismus ein größeres Einfallstor.

In den nächsten Wochen muss sich das Parlament zudem Gedanken machen, wie die Verhaltens- und Offenlegungsregeln für alle Mitglieder geschärft werden können. Lobby­register und Abgeordnetenwatch allein scheinen nicht zu reichen. Und schließlich drängt sich die Frage auf, ob sich nicht der parlamentarische Alltag generell ändern muss. Mancher Besucher auf der Tribüne schüttelt ohnehin den Kopf, wenn er Sitzungen beiwohnt, in denen Abgeordnete vor einem weitgehend leeren Rund Sprechzettel verlesen. Das hat wenig mit den Idealen demokratischer Debatte zu tun.

Die anstehende Aufarbeitung des aktuellen Korruptionsskandals im EU-Parlament darf sich nicht in der Ermittlung und Bestrafung individuellen Fehlverhaltens erschöpfen. Es geht um viel mehr, nämlich um das Vertrauen der Bürger Europas in ihre politischen Institutionen – und das ist ohnehin bereits angekratzt. Ausweislich einer Eurobarometer-Umfrage aus dem Sommer hält bereits eine Mehrheit Korruption für ein verbreitetes Phänomen im politischen Alltag.

Wenn das Vertrauen in die Integrität der Entscheidungsprozesse in Brüssel und Straßburg nun noch stärker erodiert, droht die weitere Abkehr der Bürger von der Europäischen Union – und das genau in einer Phase, in der die Aggression Russlands und die offensive Interessenverfolgung Chinas und der Protektionismus der USA die EU in besonderer Weise fordern. Europa hat viel zu verlieren, wenn es dem EU-Parlament nicht gelingt, die richtigen Lehren aus den Vorfällen der vergangenen Wochen zu ziehen.

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