Wirecard-Prozess

Duell der Angeklagten

Der Strafprozess um die juristische Aufarbeitung des Bilanzbetrugs ist auch ein spannender Fall für Spieltheoretiker. Denn einer der Angeklagten lügt vor Gericht.

Duell der Angeklagten

­Man fühlt sich an die römische Juristenweisheit erinnert, wenn der Ausgang einer Rechtssache aufgrund ihrer Komplexität ungewiss ist: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.“ Es wäre allerdings vermessen, diesen Spruch nach nur wenigen Hauptverhandlungstagen auf einen der größten Wirtschaftsstrafprozesse in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zu projizieren. Mit Gott hat der Prozess zur Aufarbeitung des Bilanzbetrugs bei Wirecard gar nichts zu tun.

In dem seit dem 8. Dezember 2022 laufenden Verfahren vor der 4. Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts München I geht es wie in einem Drama zu, in dem sich die beiden Hauptprotagonisten, der geständige Kronzeuge, der frühere Konzernstatthalter in Dubai, Oliver Bellenhaus, und der die kriminellen Taten leugnende Markus Braun, direkt gegenüberstehen. Der aus Österreich stammende Ex-CEO des im Juni 2020 zusammengebrochenen Zahlungsabwicklers gibt den unwissenden Herrn Hasen: Er will von den Veruntreuungen, den Manipulationen und den Bilanzfälschungen, die auch ihm die Staatsanwaltschaft zur Last legt, nichts gewusst haben. Braun streitet ab, der Kopf einer Bande gewesen zu sein, die kreditgebende Investoren sowie Banken gewerbsmäßig betrogen hat.

In diesem Duell hängt es an dem erfahrenen Vorsitzenden Richter Markus Födisch, im Sinne der Wahrheitsfindung aufzuklären, wer von beiden in der Hauptverhandlung lügt. Denn gewiss ist, dass entweder Bellenhaus oder Braun die Unwahrheit sagt. Geht man nach dem Ausschlussprinzip vor, so hätte das zuständige Gericht die Anklage der Strafermittler abgewiesen, wenn es handfeste belegbare Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Kronzeugen gehabt hätte. Offensichtlich ist Letzteres nicht der Fall. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, wenn Födisch bei der Bewertung des Sachverhalts und der Schuldfrage in dem Mammutprozess nicht nur auf die Expertise von Bilanzschadengutachtern setzt, sondern auch auf den kritischen Blick mandatierter Psychologen.

Denn man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich für den promovierten Wirtschaftsinformatiker Braun, der sich nach außen für unschuldig erklärt, auch um ein Spiel mit höchstem Einsatz vor dem Kadi handelt. In seiner öffentlichen Einlassung am 13. Tag der Hauptverhandlung vor knapp zwei Wochen sprach er doch zwischenzeitlich in einem Nebensatz vom „Nash-Gleichgewicht“, ohne dass der Vorsitzende Richter in seiner Vernehmung näher darauf einging. Braun, der finanziell grandios gescheiterte Zocker von Wirecard, zockt jetzt vor Gericht?

Fakt ist, dass der Hauptangeklagte mit einer Strategie der Vorwärtsverteidigung glaubt, das Gericht von seiner Version zu überzeugen. Augenscheinlich hält er diesen Weg für besser, als sich in Schweigen zu hüllen. Nach der Spieltheorie des US-Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften John Forbes Nash befinden sich Bellenhaus und Braun in einem Zustand des Equilibriums: Trotz ihrer divergierenden Vorgehensweisen sehen sich beide nicht gezwungen, von ihren Aussagen abzuweichen. Was für das Duo optimal ist, handeln doch beide rational, indem sie versuchen, die ihnen drohenden Strafen so gering wie möglich zu halten, gilt für das Gericht so nicht.

Für Födisch wäre es optimal, wenn auch Braun gesteht. Im Wissen ihres Gefangenendilemmas ist der Richter darauf erpicht, dass beide keine Gelegenheit haben, sich abzusprechen – weder im Gerichtssaal, noch in der Untersuchungshaft. In Brauns Verteidigungsstrategie ist die Schlüsselperson Jan Marsalek. Der Hauptangeklagte verweist bei der Schuldfrage auf den geflüchteten Ex-Vertriebsvorstand. Für den ehemaligen CEO wäre es ideal, wenn Marsalek niemals gefasst wird. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Strafermittler seiner habhaft werden, ist sehr gering, soll sich dieser doch Medienberichten zufolge in Russland versteckt halten.

Angesichts dieses Schwachpunktes zielt Födisch darauf ab, Braun zu zerlegen. Der Wiener verzettelte sich beim Thema KPMG-Sonderprüfung der Jahre 2019/20 in Widersprüchen und behauptet weiterhin, dass das Drittpartnergeschäft (TPA) existiert habe. Doch der Befund des Wirecard-Insolvenzverwalters Michael Jaffé spricht eine andere Sprache. Das TPA-Geschäft existiert nur in Brauns Kopf. Offenbar lügt sich da jemand in die eigene Tasche. Derweil hat Födisch genügend Zeit. Ein Urteil dürfte frühestens 2024 gefällt werden. Mehrere Dutzend Zeugen sollen vor Gericht geladen werden. Spannend wird sein, was die zu den Aussagen der Angeklagten zu berichten haben.(Börsen-Zeitung, 25.2.2023)

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