Tokio

Staatshilfe für Stadt­flüchtlinge

Wer aus Tokio wegzieht aufs Land, den macht die Regierung zum Yen-Millionär. Die Nachfrage nach dem Angebot hält sich aber dennoch in Grenzen – aus verständlichen Gründen.

Staatshilfe für Stadt­flüchtlinge

Stellen Sie sich vor, der deutsche Staat würde Familien viel Geld dafür geben, dass sie die Hauptstadt Berlin verlassen und aufs Land umziehen. Das käme Ihnen vielleicht etwas absurd vor. Aber in Japan versucht die Regierung auf diese Weise schon länger, die Landflucht zu bekämpfen. Im neuen Haushaltsjahr stockt sie die finanzielle Unterstützung für Familien für jedes Kind im schulpflichtigen Alter um das Dreifache auf 1 Mill. Yen (7000 Euro) auf, wenn sie aus dem Großraum Tokio mit seinen 38 Millionen Einwohnern wegziehen. Durch zusätzliche Subventionen kann eine Familie insgesamt 35000 Euro einstreichen.

Das 2019 eingeführte Anreizprogramm soll dabei helfen, die ländlichen Gebiete durch eine Verjüngung der Bevölkerung wiederzubeleben. Viele Kleinstädte und Gemeinden leiden unter einer dramatischen Überalterung, weil die jungen Leute mangels Perspektiven in die Metropolen abwandern. In Yubari auf der Hauptinsel Hokkaido zum Beispiel ist mehr als die Hälfte der Einwohner über 65 Jahre alt. Viele dieser Orte erkennt man an verrammelten Geschäften, geschlossenen Schulen, leerstehenden Wohnhäusern und fehlendem Bus- und Bahnverkehr.

Zwar nimmt Japans Bevölkerung als Folge der niedrigen Geburtenrate jedes Jahr ohnehin um fast eine Million ab. Aber die Zahl der Einwohner im Großraum Tokio wächst weiter stetig, so anziehend wirkt diese Megametropole mit ihren vielseitigen Arbeitsangeboten und ihrer guten Infrastruktur von Kindergärten bis zu Krankenhäusern. Diesen Trend will die Regierung mit ihrer Umzugsbeihilfe von 1 Mill. Yen pro Haushalt stoppen. Anspruchsberechtigt ist jeder, der mehr als fünf Jahre lang in den vier Bezirken Tokio, Saitama, Chiba und Kanagawa gewohnt und direkt in der Hauptstadt gearbeitet hat. Umziehende benötigen für die Subvention entweder einen Arbeitsvertrag für ein kleines oder mittleres Unternehmen in ihrem neuen Wohnort oder müssen dort ein eigenes Unternehmen gründen. Auch die Fortführung der bisherigen Tätigkeit in Tokio über das Internet aus dem Homeoffice auf dem Land ist erlaubt. Für jedes Kind gibt es 1 Mill. Yen extra, zuvor waren es 300000 Yen. Eine Familie mit zwei Kindern erhält also insgesamt 3 Mill. Yen (21000 Euro), unabhängig von den Vermögensverhältnissen der Eltern.

Mit der Erhöhung reagiert der japanische Premierminister Fumio Kishida auf eine durchwachsene Zwischenbilanz. Beim Start der Subvention 2019 meldeten sich lediglich 71 Familien, 2020 waren es erst 290. Der sprunghafte Anstieg auf 1184 Familien im Jahr 2021 erklärt sich daraus, dass Fernarbeit als dritte Förderoption eingeführt wurde. 2022 gab es knapp 2400 Antragsteller. Mit Hilfe der zusätzlichen Förderung soll die jährliche Zahl der Umsiedler bis 2027 auf 10000 Personen steigen. Japan wäre nicht Japan, wenn die Regierung dieses Programm nicht als Teil einer Gesamtstrategie vermarkten würde. Das Inselland soll sich nämlich im Rahmen eines Fünfjahresplans zu einer „digitalen Gartenstadtnation“ entwickeln – statt in zubetonierten Metropolen sollen die Japaner laut der amtlichen Vision in Kleinstädten im Grünen leben.

Etwa 1300 japanische Gemeinden buhlen darum, die wegziehenden Bürger und Familien aus dem Großraum Tokio aufzunehmen. Auf ihren Webseiten setzen einige Kommunen auf entwaffnende Ehrlichkeit – das Dorf Umaji in der Präfektur Kochi mit derzeit 820 Einwohnern wirbt zum Beispiel mit einer kostenlosen Kindertagesstätte, die natürlich keine Warteliste hätte. Der öffentlich-rechtliche TV-Sender NHK unterstützt die Kampagne mit positiven Berichten über Familien, denen die Umsiedlung gelungen ist.

Die Sehnsucht nach dem Landleben existiert jedenfalls in der Bevölkerung: Eine ­Beratungsorganisation für den Wegzug aus Tokio erhielt während der Pandemie eine rekordhohe Anzahl von Anfragen. Jeder fünfte Interessent war jünger als 20 Jahre und fast jeder zweite weiblich. Allerdings war das beliebteste Umzugsziel der Kunden, die sich persönlich beraten ließen, die Präfektur ­Shizuoka, die verkehrstechnisch attraktiv zwischen den Großstädten Nagoya und Yokohama liegt. Richtig ländlich geht es dort garantiert nicht zu.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.