60 Jahre Élysée-Vertrag

Ziemlich beste Freunde

Frankreich und Deutschland feiern am 22. Januar den 60. Jahrestag des Élysée-Vertrages. Die jüngsten Irritationen sollten als Mahnung dienen, dass sich die beiden wichtigsten Volkswirtschaften Europas wieder besser miteinander abstimmen müssen.

Ziemlich beste Freunde

Ihr Vorhaben glich einer Revolution. Noch nicht einmal 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges legten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer am 22. Januar 1963 mit dem Élysée-Vertrag den Grundstein für die Freundschaft der einstigen Erbfeinde Deutschland und Frankreich. Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz wollen die diamantene Hochzeit am Sonntag bei einem Festakt der Parlamente beider Länder in der Pariser Sorbonne feiern. Auch der deutsch-französische Ministerrat und der deutsch-französische Verteidigungsausschuss sollen am Tag des 60. Jubiläums tagen.

Doch all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutsch-französische Freundschaft in den letzten Monaten Risse bekommen hat. Wurde dem deutsch-französischen Tandem vor einigen Jahren mangelnde Leidenschaft vorgeworfen, benahmen sich beide Seiten zuletzt oft wie in ihren Gefühlen verletzte, sich vernach­lässigt fühlende Ehepartner. Paris zeigte sich irritiert, dass Scholz seinen engsten europäischen Partner in seiner Europa-Rede in Prag nicht erwähnte und ihn auch nicht im Vorfeld über den „Doppelwumms“ gegen die Energiekrise in­formierte. Verschnupft reagiert Frankreich auch, wenn Deutschland in Verteidigungsfragen eine enge Nähe mit den Vereinigten Staaten statt mit Frankreich sucht und Waffen aus den USA wie zuletzt den Kampfjet F35 kaufen.

Indes: Neu sind solche Irritationen nicht. Bereits vor 60 Jahren hatten beide Länder unterschiedliche Visionen von Europa. Auch ihre Konzepte für Industrie-, Verteidigungs- und Energiepolitik, haushaltspolitische Fragen und das Verständnis von der Rolle des Staates in der Wirtschaft unterscheiden sich nicht erst seit gestern. Frankreich setzt stärker auf staatliche Steuerung und Wirtschaftsplanung und seinen alternden Atomkraftwerkspark, Deutschland dagegen auf Exporte, Föderalismus und Kohle. Diese unterschiedlichen Konzeptionen haben immer wieder zu Spannungen zwischen den beiden größten Volkswirtschaften Europas geführt. Dazu kommen jedes Mal gewisse Anlaufschwierigkeiten, wenn in Frankreich ein neuer Präsident und in Deutschland ein neuer Kanzler antritt. Jedes neue deutsch-französische Führungstandem muss sich erst warmlaufen, sich aneinander gewöhnen. Auch bei Jacques Chirac und Gerhard Schröder, bei Angela Merkel und Nicolas Sarkozy sowie François Hollande und Macron verlief der Start ein wenig holprig.

Deshalb sollten die jüngsten Irritationen zwar nicht überbewertet, aber auch nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Sie sind eine Mahnung, das deutsch-französische Verhältnis regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen und das eigene Verhalten kritisch zu hinterfragen. Wenn Frankreich und Deutschland am Sonntag den 60. Jahrestag des Élysée-Vertrages feiern, mangelt es nicht an Gesprächsbedarf. Gefragt sind dabei wie in einer Ehe Rücksicht, Taktgefühl, Kompromissbereitschaft und Toleranz dafür, dass der Partner auch aus historischen Gründen manchmal anders tickt. Nur wenn sich Frankreich und Deutschland gut verstehen, kann Europa vorwärtskommen, sich weiterentwickeln. Ihr Verhältnis ist für die Stabilität Europas entscheidend. Beide Länder müssen sich nun in Fragen wie der Russlandpolitik, europäischen Schulden und der Energiepolitik besser miteinander abstimmen. Unternehmen erwarten vor allem Antworten auf die Energiekrise und Fragen, wie sich Europa gegenüber China und dem amerikanischen Inflation Reduction Act positioniert und wie die reglementarischen Bestimmungen für das EU-Klimapaket „Fit for 55“ aussehen soll. Frankreich und Deutschland müssen dabei eng miteinander kooperieren. Das ist wichtiger, als alle paar Jahre ein neues gemeinsames Mammutprojekt anzukündigen.

An Herausforderungen für das deutsch-französische Paar mangelt es zumindest nicht. Dazu gehört auch, das Verständnis für den Partner innerhalb der Bevölkerung wieder zu stärken. Vor allem bei der jungen Generation, auf die andere, entferntere Länder außerhalb Europas inzwischen oft eine größere Faszination ausüben. Um den anderen und seine Kultur besser verstehen zu können, ist die Kenntnis seiner Sprache unerlässlich, auch wenn man sich natürlich auf Englisch unterhalten und Texte vom Computer übersetzen lassen kann. Doch dabei gehen wichtige Subtilitäten verloren. Neben dem Klimaschutz und der Energiekrise besteht die wichtigste Herausforderung für Paris und Berlin jetzt jedoch vor allem darin, Desinformationen im Internet und die Politikverdrossenheit der Jugend in beiden Ländern zu bekämpfen. Das ist für die durch den Aufstieg von Populisten in vielen Ländern gefährdete Demokratie unerlässlich.

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