Brasilien

1.200 Festnahmen nach Sturm auf Regierungs­viertel

Der Sturm auf das Regierungsviertel hat Brasilien in einen Schockzustand versetzt und sorgt weltweit für Entsetzen. Ex-Präsident Bolsonaro distanziert sich, Nachfolger Lula da Silva sieht sich gleich einer Krise ausgesetzt.

1.200 Festnahmen nach Sturm auf Regierungs­viertel

af Buenos Aires

Nach dem Sturm auf das Regierungsviertel in Brasília haben Polizeiverbände in der brasilianischen Hauptstadt rund 1200 Personen vorübergehend festgenommen. In den frühen Morgenstunden räumten die Sicherheitskräfte das Zeltlager, das Anhänger des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro seit über zwei Monaten vor dem Eingang der Militärbasis in Brasília aufgeschlagen hatten.

Seit Sonntag ist klar, dass solche Camps Keimzellen sind für deutlich mehr als friedlichen Protest. Nachdem am Samstag Tausende Bolsonaro-Anhänger in die Hauptstadt gekommen waren, setzte sich am Sonntagmittag deren Protestzug in Bewegung, um Institutionen der brasilianischen Demokratie zu stürmen. Die Ereignisse haben das größte Land Lateinamerikas in einen Schockzustand versetzt und weltweit für Entsetzen gesorgt.

Anders als ihre Vorbilder des Sturms auf das Kapitol in Washington vor zwei Jahren verwüsteten die Bolsonaro-Anhänger nicht nur das Parlament, sie erstürmten auch das Oberste Gericht und den Präsidentenpalast und zerstörten in allen drei Institutionen Mobiliar, Kunstgegenstände, Fensterscheiben. Die Büros des Obersten Gerichtshofs setzen sie unter Wasser, das zeigten Videos, die von der Regierung publiziert wurden, nachdem Präsident Luiz Inácio Lula de Silva den Hauptstadtbezirk per Dekret unter die direkte Verwaltung der Bundesregierung genommen hatte. Lula hatte Bolsonaro bei der Wahl im Oktober besiegt und ist seit wenigen Tagen im Amt.

Im Laufe der Nacht zeigte die Justiz den Gouverneur Brasílias an, ebenso dessen Sicherheitschef, beide Verbündete Bolsonaros. Justizminister Flávio Dino und der Präsident des Obersten Gerichtshofs Alexandre de Moraes kündigten Maßnahmen an, um Teilnehmer der Um­triebe zu identifizieren. Dazu werden Hotelbuchungen ebenso untersucht wie die Passagierlisten der mehr als 100 Busse, die Fanatiker aus vielen Landesteilen in die Hauptstadt brachten. „Es gibt in der Geschichte unseres Landes keinen Präzedenzfall für das, was diese Leute getan haben“, sagte Lula. „Sie müssen be­straft werden. Und wir werden herausfinden, wer die Finanziers dieser Vandalen sind.“

Bolsonaro schrieb bei Twitter, die Aktionen hätten Grenzen überschritten. Er wies die Vorwürfe Lulas zurück, er habe die Rebellion unterstützt. Der Ex-Präsident hatte entgegen der Tradition nicht an Lulas Amtseinführung teilgenommen und war stattdessen in die USA gereist.

Dass Lulas Regierung sofort Zuspruch aus Lateinamerika, Europa und den USA bekam, war hilfreich für die Regierung, deren Bestands­fähigkeit Top-Thema der Leitartikler war. So machte das linke Lager in der Regierung dem gemäßigten Verteidigungsminister Vorwürfe, die Zeltlager der Bolsonaristas nicht gleich nach Regierungsübernahme geräumt zu haben.

Das hat die Frage nach dem künftigen Umgang mit dem Phänomen rechter staatsfeindlicher Umtriebe aufgeworfen. Deren Ziel sei es, Chaos zu säen, um die Übernahme der Macht durch das Militär zu provozieren, erklärt der Historiker Odilon Caldeira Neto, der seit Jahren über Rechtsextremismus in Brasilien forscht. Obwohl die Liberale Partei, der sich Bolsonaro vor gut einem Jahr angeschlossen hat, die Angriffe auf die Gebäude der drei Gewalten kritisiert hat, bleibt die Frage nach dem künftigen Agieren der Bolsonaro-getreuen Gouverneure, die die Regierungen der wichtigsten Bundesstaaten São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais übernommen haben.

Eine weitere große Frage ist, wer diese Bewegung aus gewaltbereiten Lastwagenfahrern, Polizisten, Farmern, Waffennarren und evangelikalen Fanatikern anführen wird, solange Bolsonaro in den USA bleibt. Wird er sich Strafverfahren stellen? Und könnte Brasilien ihm wegen seiner Covid-Versäumnisse oder der Aufhebung des Regenwaldschutzes überhaupt den Prozess machen, ohne Umtriebe zu riskieren?

Manche Kommentare sehen Lula nun gestärkt und Bolsonaro isolierter. Für andere steht die neue Regierung vor einer enormen Herausforderung: Sie muss Brasilien in die internationale Gemeinschaft einbinden und Probleme wie Hunger lösen, während über ihr ein ständiges Damoklesschwert schwebt.

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