EU-Streit um Grenzschließungen

Staats- und Regierungschefs suchen gemeinsame Lösungen - Warnungen nicht nur aus der Wirtschaft

EU-Streit um Grenzschließungen

Auf einem virtuellen Gipfel haben die EU-Regierungschefs um eine einheitliche Linie zur Frage offener Grenzen in der Pandemie gerungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel schloss Grenzschließungen als “Ultima Ratio” nicht aus. Der freie Warenverkehr sei aber “unstrittig”, hielt sie den Sorgen der Wirtschaft entgegen.ahe/sp Brüssel/Berlin – Die Debatte über eine mögliche Ausweitung von Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union aufgrund der Corona-Pandemie verschärft sich. Auf der Videokonferenz der EU-Staats- und Regierungschefs gestern Abend war zunächst keine einheitliche Linie zu erkennen. Während aus einigen EU-Ländern Rufe nach einer Offenhaltung der Grenzen kamen und mit Malta, Griechenland oder auch Portugal mehrere Staaten sogar auf zusätzliche Reisefreiheiten mit Hilfe eines Impfpasses hofften, forderten andere weitere Beschränkungen. Schon vor dem Videogipfel der EU-Staats- und Regierungschefs – der zu Redaktionsschluss noch andauerte – sprach sich der belgische Regierungschef Alexander De Croo dafür aus, touristische und andere nicht notwendige Reisen zu verbieten.Bundeskanzlerin Angela Merkel schloss Kontrollen an den deutschen Grenzen erneut nicht aus. Deutschland suche zwar einen “kooperativen Ansatz” und Grenzkontrollen seien die “Ultima Ratio”, sagte sie in Berlin. “Es geht nicht darum, flächendeckende Grenzkontrollen einzuführen, sondern wir werden versuchen, das zu vermeiden”, betonte die Kanzlerin. “Ich sage Ihnen aber ganz offen: Wenn ein Land mit einer vielleicht doppelt so hohen Inzidenz wie Deutschland alle Geschäfte aufmacht, während sie bei uns noch geschlossen sind, dann hat man natürlich ein Problem.” Nach Angaben der EU-Kommission kontrollieren derzeit unter anderem Ungarn, Österreich und Dänemark schon ihre Grenzen. Mit weiteren Kontrollen oder gar Grenzschließungen soll eine weitere Ausbreitung neuer Virusmutationen verhindert werden. Engpässe befürchtetLuxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte dringend vor solchen Maßnahmen. Wenn Pendler zum Beispiel nicht mehr nach Luxemburg kommen könnten, bräche dort das Gesundheitswesen zusammen, sagte er im “Deutschlandfunk”. Auch aus der Industrie kamen Warnungen an die Politik. “In der ersten Pandemiewelle haben wir schmerzvoll lernen müssen, dass geschlossene Grenzen zentrale Wertschöpfungsketten beeinträchtigen und zu Engpässen bei wichtigen Gütern und Dienstleistungen führen können”, sagte der Hauptgeschäftsführer des deutschen Maschinenbauverbands VDMA, Thilo Brodtmann.Ähnlich argumentierte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Trotz Lockdown-Maßnahmen müsse der grenzüberschreitende Warenverkehr funktionieren und die Wertschöpfungsketten müssten intakt bleiben, sonst drohe Europa ein noch stärkerer wirtschaftlicher Einbruch als im Frühjahr 2020, betonte der neue BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Er warnte vor Versorgungsengpässen unter anderem bei Medikamenten und Schutzgütern.”Der freie Warenverkehr ist sowieso unstrittig”, hielt Merkel den Sorgen der Wirtschaft entgegen. Für Pendler würden Testregime entwickelt, zu denen man mit den Nachbarn im Gespräch sei. “Das soll nicht holterdiepolter von einem Tag auf den anderen gehen, so dass keiner aus einem anderen Land mehr bei uns arbeiten kann – da haben wir ja alle dazugelernt”, sagte Merkel.Während der BDI unter anderem für eine einheitliche Teststrategie der EU-Länder an Häfen, Bahnhöfen und Flughäfen plädierte und “Test-Hürden vor der Grenze bei der Einreise” kritisierte, wurden gestern auch im EU-Parlament noch einmal Rufe nach grenzüberschreitend einheitlichen Maßnahmen bei gleichen Inzidenzwerten laut. “Gemeinsame Planungen und die zentrale Sammlung und Auswertung von Daten über neu auftretende Mutationen auf EU-Ebene sind dringend notwendig, um das Virus in den Griff zu bekommen”, unterstrich etwa Ska Keller, die Vorsitzende der Grünen-Fraktion.Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sprach sich für verbindliche Coronatests für Pendler in deutschen Grenzregionen mit hohen Infektionszahlen aus. Man sehe in vielen Grenzregionen, dass das Infektionsgeschehen oft auf beiden Seiten hoch sei und es sich immer wieder gegenseitig wie in Tschechien “hochschaukeln” würde, sagte er im SWR. Darüber sei die Bundesregierung auch schon mit der tschechischen Regierung im Gespräch.In Deutschland haben die Menschen ihre Mobilität zuletzt eingeschränkt. Nur 5 % aller Reisen in den ersten beiden Januarwochen waren länger als 30 Kilometer, teilte das Statistische Bundesamt mit.