Verfassungsgericht

Gezeitenwende

Fast sechs Jahre ist es her, dass die niederländische Regierung vor Gericht verpflichtet wurde, die Treibhausgasemissionen des Landes bis 2020 gegenüber 1990 um mindestens ein Viertel zu reduzieren. Eine entsprechende Klage hatte 2013 die...

Gezeitenwende

Fast sechs Jahre ist es her, dass die niederländische Regierung vor Gericht verpflichtet wurde, die Treibhausgasemissionen des Landes bis 2020 gegenüber 1990 um mindestens ein Viertel zu reduzieren. Eine entsprechende Klage hatte 2013 die niederländische Stiftung Urgenda eingereicht. Das Urteil eines Gerichts in Den Haag aus dem Juni 2015 wurde im Dezember 2019 vom obersten Gericht der Niederlande bestätigt. Es war das erste Mal, dass ein Staat vor Gericht auf ein Klimaziel verpflichtet wurde, und markiert für die meisten Beobachter von Rechtsstreitigkeiten rund um den Klimawandel so etwas wie eine Gezeitenwende.

Das gestern verkündete Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz von 2019 ist ebenfalls ein Paukenschlag. Zwar schreibt das höchste unabhängige Verfassungsorgan der Justiz der Regierung in seinem Urteil kein konkretes Emissionsziel vor. Der Bund wird aber dazu aufgefordert, bis Ende nächsten Jahres den Pfad zu der bis 2050 angepeilten Klimaneutralität über das Jahr 2030 hinaus zu präzisieren. So soll sichergestellt werden, dass die verfassungsrechtlich notwendigen Emissionsreduktionen „in grundrechtsschonender Weise über die Zeit verteilt“ werden und dem Gebot der Verhältnismäßigkeit genügen.

Konkret bedeutet die Entscheidung, dass sich die Bundesregierung fünf Monate vor der Bundestagswahl mit der Aufforderung aus Karlsruhe konfrontiert sieht, ihre Klimastrategie zu konkretisieren. Was das für die großkoalitionäre Wetterlage bedeutet, machte kurz nach der gestrigen Urteilsverkündung das Twitter-Gewitter unter Beteiligung von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) deutlich, die die Verantwortung für die vom Verfassungsgericht gerügten Unzulänglichkeiten des Klimaschutzgesetzes jeweils beim Koalitionspartner verorteten, während am Horizont ein grüner Regenbogen leuchtete.

Doch unabhängig davon, ob die Grünen im Herbst ins Kanzleramt einziehen oder nur den Juniorpartner in einer Regierung mit der Union geben: Dem Klimaschutz wird jede Regierung nach dem Entscheid des Verfassungsgerichts künftig noch größeres Gewicht beimessen. Die Drahtzieher hinter der Klage von Urgenda haben mittlerweile übrigens den britisch-niederländischen Ölkonzern Royal Dutch Shell ins Visier genommen. Unternehmen und Investoren, die sich bisher nicht mit ihren Klimarisiken beschäftigt haben, dürfen das Urteil des Verfassungsgerichts getrost als letzte Warnung verstehen.

(Börsen-Zeitung,