DAS KARLSRUHER URTEIL

Ultra was?

Bundesverfassungsgericht stellt erstmals einen Ultra-vires-Akt fest - Damit relativiert Karlsruhe den Vorrang von Europarecht

Ultra was?

Von Detlef Fechtner, FrankfurtSeit Jahrzehnten beschäftigt die Hierarchie zwischen europäischem Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht die Juristen hierzulande – insbesondere die obersten Verfassungsrichter in Karlsruhe. Grob gesagt gilt, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) der Überzeugung ist, dass Europarecht einen absoluten Anwendungsvorrang hat – also dass im Falle einer Kollision europäisches Recht stets deutsches Recht verdrängt. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe meint hingegen, dass dieser Anwendungsvorrang seine Grenzen hat. Schließlich habe Deutschland ja die Kompetenzen mittels des Grundgesetzes an die EU übertragen – da dürften doch die Pfeiler des Grundgesetzes nicht von der EU in Frage gestellt werden. Das Urteil vom Dienstag spielt auf diese Argumente an, wenn betont wird, dass die EU “die Schwelle des Bundesstaats nicht überschritten” habe und die EU-Staaten nach wie vor “Herren der Verträge” seien.Problematisch wird es im Verhältnis zwischen EU-Unionsrecht und deutschem Recht also genau dann, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Gefahr für elementare Kerne des Grundgesetzes vermutet, weil es annimmt, dass europäische Organe ihre Kompetenzen überschreiten. Solche Entscheidungen einer Institution, die nicht durch deren Kompetenzen gedeckt sind, heißen unter Rechtsexperten Ultra-vires-Akte (“jenseits der Gewalten”). Affront gegenüber dem EuGHDas Bundesverfassungsgericht ist bei der Kontrolle, ob irgendwo ein Akt ultra vires vorliegt, bisher nie zu einem positiven Befund gekommen – bis gestern. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wirft das Karlsruher Gericht einem EU-Organ, nämlich der Europäischen Zentralbank (EZB), vor, ultra vires zu handeln. Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle unterstrich ausdrücklich, das Gericht habe nun erstmals festgehalten, dass Handlungen der europäischen Institutionen von der Kompetenzordnung nicht gedeckt seien und daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten könnten. Im Urteil selbst heißt es: “Deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürfen weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken.”Freilich gibt es ein Problem: Die deutschen Richter stoßen damit ihren EuGH-Kollegen direkt vor den Kopf. Denn im Dezember 2018 hat der EuGH, den Karlsruhe im Rahmen eines Vorab-Entscheidungsersuchens eingeschaltet hatte, doch genau das Gegenteil behauptet, nämlich dass das EZB-Anleihekaufprogramm unproblematisch, weil kompetenzgemäß sei. Um dieser Einschätzung nicht folgen zu müssen, zieht das Bundesverfassungsgericht explizit die Qualität der Arbeit der Luxemburger Kollegen in Zweifel – eigentlich ein Affront. “Die Auffassung des (Europäischen) Gerichtshofs”, rügen die Karlsruher Richter, “verkennt in offensichtlicher Weise Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit”. Über diese Formulierung, so spekulieren Juristen in Internetforen, dürften sich am Ende vor allem Regierungen in Polen und Ungarn freuen. Denn die werden beim Thema Rechtsstaatlichkeit regelmäßig vom EuGH zurechtgewiesen. Die offene Kritik aus Karlsruhe am EuGH ist Wasser auf ihre Mühlen.