Afghanistan

Das unvollendete Projekt

Das Desaster in Afghanistan birgt für US-Präsident Joe Biden große politische Risiken. Und die USA büßen im geopolitischen Gefüge mächtig an Gewicht ein.

Das unvollendete Projekt

Der längste Krieg in der US-Geschichte endet nun genau so, wie er begonnen hat – mit Terror. Als bei den verheerenden Anschlägen vom 11. September 2001 in New York, Washington und Shanksville, Pennsylvania, fast 3000 Menschen ums Leben kamen, war eine militärische Antwort die einzig denkbare Alternative. Einen knappen Monat später warfen US-Kampfflugzeuge die ersten Bomben über Afghanistan ab, um die verantwortlichen Al- Kaida-Extremisten – wie es damals hieß – „auszuräuchern“ und aus ihren Höhlen zu treiben. Bis zum heutigen Dienstag will US-Präsident Joe Biden nun die letzten Trup­pen abgezogen haben, und wie die Selbstmordanschläge der vergangenen Woche beweisen, wird das unrühmliche Ende eines Krieges, der selbst den Einsatz in Vietnam überdauert hat, ebenfalls von Terror begleitet.

In elf Tagen werden sich die Terroranschläge von „9/11“ zum 20. Mal jähren. Da drängt sich die Frage auf, was in den beiden abgelaufenen Dekaden eigentlich erreicht worden ist. Biden begründet die konsequente Umsetzung des Rückzugs damit, dass sämtliche Ziele erfüllt seien. Das US-Militär und die Geheimdienste hätten den Drahtzieher von 9/11, Osama bin Laden, bei einer Razzia in Pakistan getötet. Al Kaida sei weitgehend neu­tralisiert worden, und gegen die USA hätten islamische Extremisten keine größeren Anschläge mehr durchführen können, so Biden. Folglich habe seine Regierung keine Veranlassung mehr, die Truppenpräsenz zu verlängern.

Bidens Geschichtsrevisionismus kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mission unter dem damaligen Präsidenten George W. Bush deutlich weiter definiert war. Natürlich ging es darum, die Terrormiliz aus dem Verkehr zu ziehen und die Taliban zu stürzen, die Al Kaida am Hindukusch Unterschlupf gewährt hatten. Bush versprach aber auch, im Geiste des Marshallplans das Land wirtschaftlich aufzurichten und außerdem die Streitkräfte auszubilden sowie die Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie zu schaffen. In diesem Sinne entschied auch sein Nachfolger Barack Obama, seinerzeit Bidens Chef, mehr Truppen nach Afghanistan zu schicken. Er meinte, dass während des Irakkriegs die dort lauernden Gefahren in Vergessenheit geraten seien und das Regime von Hamid Karzai bedenklich ins Wanken geraten könnte.

Wie der jüngste Durchmarsch der Taliban, die Kapitulation der von den USA ausgebildeten und ausgerüsteten Streitkräfte und der widerstandslose Kollaps der afghanischen Regierung beweisen, ist das amerikanische Afghanistan-Projekt nach 20 Jahren nicht komplett gescheitert. Denn die USA erscheinen heute sicherer als 2001. Doch ist die Mission unvollendet – was für die USA einen kolossalen Gesichtsverlust im geopolitischen Gefüge darstellt. Gleichwohl berechtigt der misslungene Versuch des „Nation Building“ den amtierenden Präsidenten nicht, schlichtweg zu bestreiten, dass das Projekt jemals Bestand hatte, und sich ohne Rücksicht auf die Folgen einfach aus der Affäre zu ziehen. Eine drohende Folge ist, dass die als noch gefährlicher geltende Miliz IS-Khorasan neue Anschläge gegen die USA und andere westliche Ziele vorbereiten könnte.

Aber es scheint fraglich, ob Biden wirklich bessere Alternativen hatte. Dass die USA nicht auf ewig einen Krieg fortsetzen wollen, der bis heute mehr als 200000 Menschenleben gefordert und den Staat mehr als 2 Bill. Dollar gekostet hat (bei denen nach Berechnungen der Brown-Universität bis 2050 weitere 4,5 Bill. Dollar an Zinsen auflaufen werden), ist nachvollziehbar. Umfragen zufolge unterstützen auch 70 Prozent der US-Bürger den Truppenabzug. Nicht einverstanden sind sie hingegen mit der chaotischen Umsetzung und den Versäumnissen der Geheimdienste, die das Tempo, mit dem die Taliban wieder die Macht an sich rissen, unterschätzt hatten.

So oder so birgt das Desaster am Hindukusch für Biden und die US-Demokraten große politische Risiken. Die Republikaner lassen nämlich keine Gelegenheit aus, um den Präsidenten zu geißeln. Einige fordern seinen Rücktritt, andere wollen ein Impeachment-Verfahren einleiten. Dazu wird es zwar nicht kommen. Die Oppositionspartei wittert aber Morgenluft und will aus „Bidens Vietnam“, wie einige Historiker das Desaster bereits nennen, maximales politisches Kapital schlagen. Diese Rechnung könnte aufgehen. In Umfragen befindet sich der Präsident nämlich im freien Fall. Wenn die Republikaner bei den Kongresswahlen im nächsten Jahr die Mehrheiten in beiden Kammern zurückerobern, dann wäre Biden schon mitten in seiner ersten Amtsperiode zu einer „lame duck“ degradiert.

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