Frankfurt

Der Wettlauf der Statistiker

„Flash Estimate“ und „Nowcast“: Statistische Ämter bemühen sich darum, Konjunkturindikatoren früher zur Verfügung zu stellen. Sie müssen dafür manchmal auch Satellitenbilder auswerten.

Der Wettlauf der Statistiker

Be first, but first be right“, lautet das Credo großer Nachrichtenagenturen. Also: schnell sein, aber eben nicht vorschnell. Die Marketingprofis von Reuters und Bloomberg haben sich mit Berufung auf genau dieses Ziel in der Vergangenheit schon öffentliche Schaukämpfe geliefert.

Es sind freilich längst nicht nur die rasenden Reporter der Nachrichtenagenturen, die zusehends gefordert sind, den Bedarf nach schneller Information möglichst aktuell zu decken. Wie es neudeutsch heißt: near time. Oder gar: real time. Vielmehr ist der Ruf nach mehr Tempo längst auch in Behördenstuben angekommen – bei den Volkswirten und Statistikern.

Die Präsidentin des Statistischen Bundesamts, Ruth Brand, hat jüngst im Interview der Börsen-Zeitung veranschaulicht, dass es auf die richtige Balance zwischen Geschwindigkeit und Verlässlichkeit der zur Verfügung gestellten  Daten an­kommt: „Wir versuchen, bei unseren Berechnungen das bestmögliche Verhältnis zwischen Aktualität und Genauigkeit zu erreichen.“

Das wiederum geht natürlich nur, wenn Statistiker, die belastbare Ziffern für die konjunkturelle Entwicklung vorlegen wollen, nicht erst abwarten, bis alle Umsätze und Auftragseingänge gezählt und gemeldet sind. Sondern bereits 30 Tage nach Quartalsende eine vorläufige Meldung machen – den sogenannten Flash Estimate. Oder sogar bereits zehn Tage nach Abschluss eines Jahresviertels sich eine superfrühe Schätzung zutrauen – den „Nowcast“, also eine Kombination aus „now“ und „forecast“. Vergleichbar mit den sonntäglichen Wahlabenden, wenn die ersten Hochrechnungen ja auch nicht erst spät in der Nacht vorliegen, sondern schon unmittelbar nach Schließung der Wahllokale.

Längst geht es dabei nicht mehr nur um das Extrapolieren von Daten der Vergangenheit, sondern um die Einbeziehung hochaktueller Kennziffern jenseits von Auftragsbeständen und Kapazitätsauslastungen.

Die Möglichkeiten dafür eröffnet unter allem die Satellitentechnik. So gilt die – per Satellit erfasste – Gesamtzahl geparkter Autos vor Einzelhandelsgeschäften als hilfreicher Frühindikator für Umsätze. Aus großer Ferne lässt sich auch die Zahl der auf Schiffen transportierten Container erfassen. Das funktioniert technisch ganz gut – auch, wie Experten berichten, aufgrund des einfarbigen Hintergrunds, der die Bestandsaufnahme erleichtert. Freilich geht es auch ohne Satellit. In deutschen Innenstädten messen Laserscanner die Zahl der vorbeihuschenden Passanten, um daraus Ableitungen für die Lage im Einzelhandel abzuleiten. Die Scanner registrieren übrigens normalerweise nur Menschen über 80 Zentimeter. Erst an diesem Punkt beginnt – statistisch gesehen – die Kaufkraft. Zu den moderneren Frühindikatoren zählen auch Fahrleistungsindizes, die sich aus den Erlösen der Lkw-Maut speisen. Oder auch Umsatzsteuer-Vorausmeldungen.

Gewiss schielen die staatlichen Statistiker mit Neid auf den Schatz der Datenkraken wie Google, denn die Suchabfragen geben zweifelsohne noch frühere Hinweise über die wirtschaftliche Entwicklung. Andererseits scheint der Datenschatz der Behörden ebenfalls gigantisch groß zu sein. Wie anders ließe sich erklären, dass Eurostat, Destatis & Co. täglich unglaublich viele Meldungen veröffentlichen, die erahnen lassen, wie viele Fantastilliarden von Daten behördlich erhoben und gespeichert sein müssen.

Etwa, dass sich die Kaiserschnittrate bei Geburten in Deutschland seit den Neunzigern auf mehr als 30% verdoppelt hat. Oder dass die Zahl der produzierten Uhren hierzulande ein Sechstel niedriger liegt als vor zehn Jahren – und die Zahl der Kuckucksuhren sogar nur noch halb so hoch. Oder das jeder dritte Trambahnfahrer in Deutschland älter als 55 Jahre ist.

Hand aufs Herz: Vieles davon will man gar nicht wirklich wissen. Das gilt freilich nicht nur für amtliche Statistiken, sondern für die unendliche Flut von Umfrageergebnissen, die private Unternehmen in Auftrag geben. Beispiel gefällig? Der Online-Händler Galaxus hat dieser Tage 1500 Bundesbürger darüber befragt, wie oft sie ihre Unterwäsche wechseln. Besser, man denkt gar nicht darüber nach, wer die 1,4% der Männer sind, die angegeben haben: wöchentlich.

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