Brüssel

Die Krux mit langfristigen Stromverträgen

Die EU-Kommission setzt sich dafür ein, dass Stromkunden künftig mehr Wahlmöglichkeiten haben. In der belgischen Hauptstadt ist das teilweise bereits Realität – mit Folgen für den Wettbewerb.

Die Krux mit langfristigen Stromverträgen

Viel Auswahl blieb mir nicht. Lediglich zwei Stromanbieter sind in Brüssel verblieben, musste ich in der „Brussels Times“ lesen, als ich mich nach meinem Einzug auf die Suche nach einem Versorger machte. Einer hatte sich vor längerer Zeit aus der Hauptstadt zurückgezogen, ein anderer nimmt nur noch Kunden mit Solarpaneelen auf dem Dach, den nächsten hat die Energiekrise in die Flucht geschlagen. „Weniger Anbieter bedeuten weniger Wettbewerb in Brüssel“, zitierte die Lokalzeitung eine Sprecherin der Aufsichtsbehörde Brugel. „Wir haben bereits geraten, den Markt attraktiver zu machen.“

Den Markt attraktiver machen: Das hat sich auch die EU-Kommission gedacht. Kürzlich hat sie einen Vorstoß zur Reform des europäischen Strommarkts gemacht. Der erwartet große Wurf ist zwar ausgeblieben. Das hat für eine gewisse Überraschung gesorgt, und zwar überwiegend im positiven Sinne: Für Experten ist nämlich nicht die Art der Preisfindung im bewährten Merit-Order-System das Problem, sondern der Energiemix. Dennoch haben die Brüsseler Gesetzesmacher so manche Neuheit in petto – nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Privatleute.

Nach den Vorstellungen der EU-Kommission sollen Kunden in ganz Europa künftig mehr Wahlmöglichkeiten haben. Menschen mit großem Sicherheitsbedürfnis sollen sich einmal vereinbarte Preise für mehrere Jahre sichern können, um nicht aufs Neue von Preisschocks überrascht zu werden. Anzunehmen ist, dass Kunden mit einem gewissen Preisaufschlag rechnen müssen, wenn sie die geplante Langfristoption ziehen. Schließlich wollen sich auch die Versorger gegen das Risiko steigender Preise absichern. Andererseits sollen Kunden das Recht haben, mehrere Stromverträge parallel abzuschließen. Das ist beispielsweise für Besitzer von Elektroautos interessant: Laden sie ihr Auto ausschließlich nachts, winken ihnen günstigere Preise – weil in Phasen geringen Verbrauchs insgesamt weniger Strom benötigt wird.

Was für die meisten wie Zukunftsmusik klingen mag, ist in Brüssel längst Realität. Im Keller meines Apartmentkomplexes hängen für jede Wohnung Doppelzähler: Der eine misst den Stromverbrauch am Tag, der andere bei Nacht. Tatsächlich bieten mir die zwei verbliebenen Stromanbieter auf dem Brüsseler Markt unter anderem einen speziellen Nachttarif an. Klingt verlockend, schließlich sitze ich tagsüber ohnehin im Büro. Doch die Vernunft rät mir, lieber einen normalen Tarif zu nehmen, der eine Mischkalkulation aus Tages- und Nachtverbrauch ist.

Der Versorger meiner Wahl heißt Engie. Der wirbt auf seiner Internetseite stolz damit, als erster belgischer Anbieter einen Tarif mit 100% Ökostrom im Angebot zu haben. Ich setze den entsprechenden Haken in einem Online-Prozess, der mit wenigen Klicks und Eingaben überraschend geschmeidig zum Ziel führt. Mir bleiben allerdings Restzweifel: 100% Ökostrom – kann das wirklich sein?

Statistiken zufolge beziehen die Belgier bislang weniger als ein Viertel ihres Stroms aus Windkraft, Solarenergie oder Biomasse. Mit Abstand die wichtigste Rolle spielt nach wie vor Atomkraft: Sie lieferte in Belgien vergangenes Jahr knapp die Hälfte des Stroms. Wegen der Energiekrise haben Regierung und Engie vereinbart, die Laufzeit zweier Atomkraftwerke namens Tihange 3 und Doel 4 um zehn Jahre zu verlängern. Ein baldiger Ausstieg aus der Atomkraft ist also vom Tisch – was im Nachbarland Deutschland für Un­ruhe sorgt. Den Meiler Tihange 2 nahe der deutschen Grenze hat Belgien kürzlich wegen Mängeln vom Netz genommen. Der Anteil erneuerbarer Energien steigt zwar langsam, kann aber noch keine vollständig zuverlässige Energieversorgung gewährleisten. Darauf weist Engie auf seiner Webseite hin.

Mindestens so viel Kopfzerbrechen wie die Versorgungssicherheit bereitet den Versorgern die Situation in der Hauptstadt. Hier zahlten besonders viele Kunden ihre Rechnungen nicht, heißt es. Engie und Co. klagen, dass sie wegen des gesetzlich verankerten Verbraucherschutzes häufig auf den Kosten sitzenblieben. Das liegt auch daran, dass es sich in der Regel um mehrjährige Stromverträge handelt – ein Anspruch, den künftig noch viel mehr Europäer haben sollen, wenn es nach der EU-Kommission geht.